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08/15/2000 15:37

Der Seismograf des Künftigen - neu erschlossen

Dr. Christian Jung Stabsreferat Kommunikation
VolkswagenStiftung

    VolkswagenStiftung fördert an der Stiftung Weimarer Klassik die Erschließung des Nietzsche-Archivs mit rund 550 000 Mark

    Er liest sich ungebrochen aktuell. Wer mag dem widersprechen, dass der moderne Mensch geplagter Sklave sei der drei M: "des Moments, der
    Meinungen und der Moden". Aktuelle Zustandsbeschreibung des modernen Menschen? Vielleicht, doch mitnichten aktuell formuliert. Der dieses sagte und schrieb, ist am 25. August vor hundert Jahren gestorben. Und wenngleich oder gerade weil sich an ihm die Geister scheiden, so ist doch unstrittig, dass Friedrich Nietzsche wie kaum ein anderer die Diskurse des
    20. Jahrhunderts bestimmt hat: die philosophischen, künstlerischen, politischen, weltanschaulichen.

    Den Nachlass Friedrich Nietzsches für die interessierte Öffentlichkeit aufzubereiten und besser zugänglich zu machen, muss folglich wichtiges gesellschaftliches Anliegen sein. Die VolkswagenStiftung hat in der Vergangenheit immer wieder entsprechende Projekte gefördert, zuletzt mit rund 550 000 Mark die Erschließung und Verzeichnung der Korrespondenzakten des von Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche 1894 begründeten Nietzsche-Archivs, das unter Verwaltung der Stiftung Weimarer Klassik steht. Mit diesem vor kurzem abgeschlossenen Projekt konnte eine Forschungslücke geschlossen werden: Durch die wissenschaftlich-systematische Erfassung der über 30 000 Briefe von und an Elisabeth Förster-Nietzsche und ihre Mitarbeiter wurde eine neue Grundlage geschaffen für ganz unterschiedliche historisch-analytische Aufarbeitungen des immer noch weitgehend unausgewerteten Bestandes.

    Was das konkret bedeuten kann, lässt sich am Beispiel der Korrespondenzpartner zeigen. So war es ein wesentliches Ziel des geförderten
    Vorhabens, die immerhin über 20 000 Briefpartner des Nietzsche-Archivs eindeutig zu identifizieren. Nicht selten mussten die Forscher dazu ergänzende Ermittlungen - etwa die Analyse von Verwandtschaftsverhältnissen oder das Verfolgen beruflicher Entwicklungen - vornehmen, um die Identität einzelner Personen zu klären. Über diese zeitaufwändigen Personenrecherchen gelang es, den Blick zu lenken auf eine Vielzahl bedeutender Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wirtschaft, zu denen das Nietzsche-Archiv Kontakt pflegte. So lassen sich anhand dieser Protagonisten viele Facetten deutscher Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Jahrhundertwende mit Ausstrahlung bis zum Dritten Reich darstellen. Und eben jeder dieser Protagonisten in seinem Verhältnis zu Nietzsches Werk und
    im Kontext der Zeit könnte Ausgangspunkt zu weiteren wissenschaftlichen Vorhaben sein - eine schier unerschöpfliche Quelle.

    Ein zweiter Hauptaspekt des von der VolkswagenStiftung geförderten
    Vorhabens ergab sich daraus, dass der untersuchte Bestand außergewöhnlich viele Anlagen wie Sonderdrucke, Gedichte, Familienanzeigen, Fotos, Einladungen und Programme enthält. Sie wurden so weit wie möglich erfasst, da diese Informationen ebenfalls oft wertvolle Hinweise für weitere Forschungsarbeiten geben.

    Der Erfolg der Förderung lässt sich schon jetzt daran erkennen, dass die Zahl aktueller Anfragen von Wissenschaftlern - insbesondere außerhalb Deutschlands - und konkreter Benutzerwünsche sprunghaft gestiegen ist, versichert die verantwortliche Mitarbeiterin der Stiftung Weimarer Klassik, Dr. Roswitha Wollkopf. Zu erkennen ist ein breites Spektrum von Fragestellungen und Forschungsinteressen jener, die sich der erschlossenen Korrespondenzakten bedienen. Dabei kristallisiert sich neben zahlreichen Untersuchungen zu Einzelpersonen wie etwa Gerhart Hauptmann, Harry Graf Kessler, Ferdinand Tönnies oder Henry van de Velde mehr und mehr die Bearbeitung übergreifender Problemkomplexe heraus: Nietzsche-Rezeption in Frankreich und Italien, sein Einfluss auf das amerikanische Denken und die amerikanische Kultur im 20. Jahrhundert, Nietzsches
    Wirkung auf die Frauenbewegung, Wirkungsgeschichte Nietzsches in den bildenden Künsten und der Musik, Zusammenhänge mit der Entwicklung des Nationalsozialismus und Totalitarismusprobleme - um nur einige Beispiele zu nennen.

    Auch diese neuen Fragestellungen belegen, wie aktuell Nietzsche aus heutiger Sicht ist, sein muss. Denn nicht nur hatte der Philosoph zielsicher vorausschauend dem 20. Jahrhundert große Kriege prognostiziert und die vorübergehende Herrschaft des Sozialismus; darüber hinaus legte er seine Hand mit Nachdruck schon auf das 21. Jahrhundert. Die Vehemenz, mit der die Technik alle Kultur dominiert und ihrem Gesetz und Rhythmus unterwirft, dem sich die Menschen bedingungs- und besinnungslos ergeben, sah er als eines der größten Probleme seiner Zeit und unserer Zeit.
    Nietzsches Warnungen treffen damit das endende und das beginnende Jahrtausend. Von Thomas Mann ist überliefert, dass er Nietzsche für einen "Seismographen des Zukünftigen" hielt. Das gilt wohl noch immer.
    Mit Nietzsche wäre jedenfalls zu wünschen, dass nicht stimmt, dass
    "Niemand mehr den Muth hat, zu Ende zu denken".

    Kontakt: Stiftung Weimarer Klassik, Dr. Roswitha Wollkopf, Tel.: 0 36 43 / 54 52 41, e-mail: wollkopf@weimar-klassik.de

    Der Text dieser Presseinformation steht im Internet zur Verfügung unter http://www.volkswagenstiftung.de/presse00/p150800


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    Criteria of this press release:
    Art / design, History / archaeology, Language / literature, Music / theatre, Philosophy / ethics, Religion, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Research results
    German


     

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