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Wissenschaft
Zukunftsinvestition Jugend
Jugendforscher stellen acht Thesen fuer eine neue Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Jugendpolitik vor
Forschungsergebnisse: Symposium und Wissenschaftspressekonferenz
Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel verschlechtern die Lebensperspektive von niedrigqualifizierten Jugendlichen drastisch: das zeigen neuere Forschungsergebnisse einer Gruppe von Jugendforschern. Fuer viele Jugendliche wird aufgrund ihrer ausweglosen Situation der Anschluss an Jugendbanden subjektiv sinnvoll. Damit hat auch in Deutschland eine Entwicklung eingesetzt, wie sie aus Lateinamerika und Teilen der USA und mittlerweile auch aus Frankreich und Grossbritannien bekannt ist. Steigende Kriminalitaet, Gewalt und Ghettobildung werden ueber kurz oder lang zu einem Problem auch der Hoeherqualifizierten und ,Besserverdienenden" werden. Aufgrund einer Initiative von Trierer Wissenschaftlern fand Ende April 1998 in Bonn im Wissenschaftszentrum das Symposium ,Jugend und Bildungspolitik" statt. Vorgestellt und diskutiert wurden acht Thesen zu einer ,Zukunftsinvestition Jugend", die hier folgen:
Bildung als Buergerrecht wurde vor dreissig Jahren vor allem im Hinblick auf den Zugang zur hoeheren Schule und zur Universitaet verkuendet. Dies hat in allen modernen Industrienationen zu einer eindrucksvollen Steigerung der Zahl der Hochschulabsolventen, des Potentials an Wissenschaftlern, Experten und Fuehrungskraeften und damit auch ganz entscheidend zur Wettbewerbsfaehigkeit der Volkswirtschaften beigetragen. Das Gegenstueck zu jener wachsenden Zahl von Schuelerinnen und Schuelern, die leistungsorientiert und -faehig weiterfuehrende Schulen besuchen, bilden jene Jugendlichen, die Schule als Sackgasse erleben und die fehlenden Perspektiven in depressivem Rueckzug oder gesteigerter Aggressivitaet zu bewaeltigen suchen. Es ist keine Kritik an den betroffenen Schulen, sondern ein Hinweis auf die Probleme, die ihnen aufgeladen werden, wenn wir daher feststellen:
These I
Der begruessenswerte Ausbau des Bildungswesens in den letzten dreissig Jahren hat unbeabsichtigte Nebenfolgen gehabt: In Hauptschulen, Sonderschulen, manchen Berufsbildenden Schulen und Gesamtschulen (vor allem in problembelasteten Einzugsgebieten) sammeln sich diejenigen, die - aus welchen Gruenden auch immer - in der Konkurrenz nicht mithalten konnten. Dort kommt es immer mehr zu Aggressivitaet und Gewalttaetigkeit, wie beispielsweise in der Statistik der gesetzlichen Unfallversicherer deutlich wird.
Raeumliche Mobilitaet und die Entwicklung des Wohnungsmarktes haben zur Trennung von Bevoelkerungsgruppen gefuehrt: Problemfamilien sammeln sich in vernachlaessigten Innenstadtgebieten oder in Trabantenstaedten der sechziger Jahre. Aktive Jugendliche bewaeltigen den Mangel an Bedeutsamkeit und ihre Entwertung durch Bandenbildung und setzen sich in Revierkaempfen in Szene. Wenn abstiegsbedrohte oder absteigende Bevoelkerungsgruppen dann mit Einwanderern um den oeffentlichen Raum und um die Sprache in der Schule konkurrieren, braut sich eine explosive Mischung zusammen. Daher gilt:
These II
Die heutige Bildungskatastrophe findet - weithin unbeachtet, aber zunehmend gewalttaetig - in den multiethnischen Randzonen der grossen Staedte und den Aussiedlerghettos auf dem flachen Lande statt. Es bedarf dann vielfach nur kleiner Anlaesse, damit der Funke ueberspringt und es zum Ausbruch von Gewalt und Kriminalitaet kommt. Auch an den Schulen dieser Gebiete sollte Bildung Buergerrecht sein.
Freilich sollte dies nicht nur im Sinne kognitiver Wissensvermittlung, sondern auch im Sinne eines sozialen Lernens verwirklicht werden, das Konfliktschlichtung in den Mittelpunkt rueckt. Dies wird um so bedeutsamer, weil in unserer Gesellschaft durch interne Ausdifferenzierung von unterschiedlichen Lebensstilen und durch Zuwanderung die kulturelle Vielfalt zunimmt. Verunsicherte Menschen fuehlen sich durch die Konfrontation mit fremden Lebensweisen irritiert, werten Fremde ab und erklaeren sie zu Feinden. Daher:
These III
Die Bereitschaft, die Dinge mit den Augen anderer zu sehen, und die Faehigkeit, Konflikte friedlich zu regulieren, sind Schluesselqualifikationen, die in Schule und Unterricht ebenso vermittelt werden muessen wie die fundamentalen Kulturtechniken des Lesens, Schreibens und Rechnens. Die Aus- und Fortbildung der Lehrer ist auf diese Anforderungen nicht vorbereitet. Es ist dringend, die Lehrerbildung entsprechend zu reformieren.
Soziales Lernen wird sich allerdings nicht auf den Vormittag beschraenken lassen. Waehrend in anderen Laendern die Ganztagsschule der Regelfall ist, rechnen wir in Deutschland immer noch mit der Verfuegbarkeit der Eltern fuer die Betreuung von Hausaufgaben und die moralische Erziehung am Nachmittag. Daher:
These IV
Wir brauchen Schulen, in denen auch am Nachmittag eine qualifizierte Betreuung und Foerderung der Schueler stattfindet, damit jugendeigene Cliquen (und das Fernsehen) in der Freizeit nicht allein darueber entscheiden, welche Moral gelernt wird.
Die Aggressionsbereitschaft von Jugendlichen waechst, wenn die Wege in die Erwachsenenwelt durch Lehrstellenmangel und Arbeitslosigkeit blockiert sind. Kriminelle Ersatzkarrieren werden dann attraktiv. Der Arbeitsmarkt kann folglich wesentlich dazu beitragen, ob sich aggressive Cliquen verfestigen. Rein zeitlich geht die Zunahme der Jugenddelinquenz bis 1982 und dann wieder ab 1992 mit der Steigerung von Jugendarbeitslosigkeit einher. Heute hat die Mikroelektronik viele Arbeitsplaetze ueberfluessig gemacht, in denen Menschen mit einfacheren intellektuellen Faehigkeiten ihre Chancen hatten. Die verschaerfte weltwirtschaftliche Konkurrenz laesst die Marktgeltung niedriger (und auch traditioneller) Qualifikationen weiter sinken. Nicht nur Einheimische, sondern erst recht Jugendliche aus Einwanderergruppen haben darum Anlass, Misserfolge auf dem Arbeitsmarkt in Banden zu kompensieren und mittels Gewaltdrohung Respekt oder gar Herrschaft in ihrem Stadtviertel anzustreben. Sie bieten dann ein ideales Rekrutierungsfeld fuer die niederen Dienste in den Mafiabanden aus den Heimatlaendern. Daher ist abzusehen:
These V
Die Konsequenzen der Ausgrenzung grosser Gruppen von Jugendlichen auf dem Arbeitsmarkt werden in Form von Verelendung, Slumbildung und Bandenkriminalitaet auch die Sicherheit und das Lebensgefuehl der gesellschaftlichen Gruppen beeintraechtigen, die mit ihrer qualifizierten Arbeitskraft oder durch ihren ererbten Besitz (noch) konkurrenzfaehig sind. Daher kommt es jetzt darauf an, arbeitslose Jugendliche nicht wie bisher der Sozialhilfe zu ueberlassen, sondern fuer sie (wie in den Niederlanden und Daenemark) Lehrstellen oder zeitweise subventionierte Arbeitsplaetze zu schaffen, in denen ihre Arbeitsfaehigkeit als solche, und zwar ohne Schul- und Pruefungssituationen, aufgebaut und verstetigt wird. Andere Jugendliche brauchen ausbildungsbegleitende Hilfen, um die Huerde der Pruefungen vor den Kammern nehmen zu koennen. Da in unserer Gesellschaft die schulisch erfolgreichen jungen Leute ihre Ausbildung an den Hochschulen staatlich finanziert bekommen, die schulisch weniger erfolgreichen dagegen ihre Ausbildung durch Arbeitsleistung selber finanzieren muessen, ist es moralisch nicht zu rechtfertigen, dass sie auf der Strasse stehen, sobald sich das fuer die Firmen nicht mehr rechnet. Daraus folgt:
These VI
Wir hielten es lange Zeit fuer selbstverstaendlich, dass - oeffentlich finanziert - akademische Qualifikationen fuer den Arbeitsmarkt bereitgestellt werden. Mindestens ebenso wichtig duerfte es heute und in Zukunft sein, die Minimalqualifikationen fuer den Arbeitsmarkt bei den Jugendlichen oeffentlich zu sichern, bei denen dies durch die Betriebe nicht erfolgt.
Auch wenn das Problem der gesamtwirtschaftlichen Arbeitslosigkeit dadurch nicht geloest wird: Die UEberwindung des Bildungselends in den Schulen belasteter Wohngebiete, die Herstellung von Qualifikationen fuer Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt sonst nicht konkurrenzfaehig sind, die Gewaehrleistung sozialer und innerer Sicherheit, die Regulierung von Einwanderungsschueben und die Integration von Einwanderern - all dies sind dramatische Zukunftsaufgaben, denen sich Staat und Gesellschaft unausweichlich stellen muessen. Auch dort, wo diese Aufgaben delegiert oder privatisiert werden koennen, wird die Finanzierung letztlich als Gemeinschaftsaufgabe von allen aufgebracht werden muessen. Ein schlanker Staat ist schoen, ein ausgehungerter Staat kann seine elementaren Aufgaben nicht mehr erfuellen. Daher:
These VII
Der Staat hat die Aufgaben zu erfuellen, die weder vom Markt noch von Buergergemeinschaften uebernommen werden koennen: Wir brauchen gute Schulen fuer die Verlierer der Bildungsexpansion, wir brauchen Arbeitsfoerderung fuer die ,Opfer" von Mikroelektronik und Globalisierung, aufsuchende Sozialarbeit und praesente Polizei - sonst werden eines Tages die ,Besserverdienenden" ihre Haeuser befestigen und ihre Wohngebiete sichern muessen.
Angesichts dieser Entwicklung ist es nicht akzeptabel, wenn die Parteien fast ausschliesslich ueber Modelle der Senkung direkter Steuern debattieren und nichts zur Finanzierung der draengenden Gemeinschaftsaufgaben sagen. Sie sollten wissen: Die Buerger sind bereit, zusaetzliche Leistungen zu erbringen, wenn vertrauenswuerdige Politikerinnen und Politiker ihnen deren Notwendigkeit fuer die Sicherung des inneren Friedens und die Wahrung des Wohlstands deutlich machen. Dies waere schon bei der deutschen Vereinigung so gewesen, und dies gilt auch heute. These VIII lautet daher:
These VIII
Ein wirklich gebildeter Buerger ist bereit, sich zur Unterstuetzung der Schulen und in der Jugendarbeit zu engagieren, bei der Qualifizierung von Jugendlichen zu helfen, in Projekten der kriminalpraeventiven Raete mitzuarbeiten, sich aktiv um die Integration von Einwanderern zu kuemmern. Und er ist willens, Steuern zu zahlen, d.h. dem Staat zu geben, was der Staat braucht, damit der innere Frieden gewahrt bleibt. Beteiligte Wissenschaftler
Initiative ,Jugend und Bildung":
- Martin Baethge (Arbeits- und Berufssoziologie)
- Roland Eckert (Jugendsoziologie)
- Wolfgang Edelstein (Entwicklungspsychologie)
- Wilhelm Heitmeyer (Konflikt- und Gewaltforschung)
- Klaus Hurrelmann (Sozialisations- und Ge-sund-heits-forschung)
- Eckhard Knappe (Volkswirtschaftslehre)
- Leo Montada (Gerechtigkeitspsychologie)
- Gertrud Nunner-Winkler (Sozialpsychologie)
- Ilona Ostner (Sozialpolitik)
- Christian Pfeiffer (Kriminologie)
- Dieter Sadowski (Betriebswirtschaftslehre)
- Yvonne Schuetze (Familiensoziologie)
- Juergen Zinnecker (Erziehungswissenschaft)
Weitere Informationen: Professor Dr. Roland Eckert, Universitaet Trier, Telefon: (06 51) 2 01-27 04 (8.30 - 12.30 Uhr), Telefax: (06 51) 2 01-39 69
Criteria of this press release:
Social studies
transregional, national
Research projects
German
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