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Historiker der Universität Jena erforschte Leben und Werk Alexander Mitscherlichs
Jena (04.03.08) Seine Bücher "Die Unfähigkeit zu trauern" und "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft" haben ihn zu einem Klassiker gemacht: Alexander Mitscherlich (1908-1982). Der Psychoanalytiker gehörte zu den bedeutendsten kritischen Intellektuellen der 1960er Jahre in der Bundesrepublik und war eine Ikone der Studentenbewegung - seit den siebziger Jahren geriet er zunehmend in Vergessenheit. Dr. Tobias Freimüller, Historiker an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, hat Leben und Werk Mitscherlichs im Rahmen seiner Doktorarbeit untersucht, die vor kurzem als Buch veröffentlicht worden ist.
Alexander Mitscherlich stammte aus einem großbürgerlichen, monarchistisch gesinnten Elternhaus. Er studierte zunächst Geschichte, später Medizin und wurde in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker zum Neurologen ausgebildet. Wie kam es dazu, dass Mitscherlich in den sechziger Jahren als "linker" Professor und akademischer "Vater" der Protestbewegung von 1968 wahrgenommen wurde?
Mitscherlichs Lebensthema war die Frage nach der "Massenpsychologie", sagt Freimüller. Das Erlebnis des Nationalsozialismus hatte für Mitscherlich erwiesen, dass moderne Gesellschaften anfälliger für ideologische Verführung waren, je mehr traditionelle Werte und Normen an Bedeutung verloren.
Diese Sorge, konstatiert Freimüller, teilte Mitscherlich mit vielen konservativen Kulturkritikern. Als Psychoanalytiker konnte er allerdings eine Zukunftsperspektive formulieren: Die individuelle Selbsterziehung zur kritischen Mündigkeit. Damit war Mitscherlich seit den frühen sechziger Jahren sehr anschlussfähig an den Zeitgeist.
Aber auch als Person wurde er zur Identifikationsfigur für viele Jüngere. Mitscherlich war als einer der wenigen seiner Generation politisch unbelastet. Er war eine faszinierende Persönlichkeit mit großer Ausstrahlung und er hatte keine Scheu, sich als kritischer Geist öffentlich zu aktuellen Problemen zu äußern. Mit der Diagnose einer "Unfähigkeit zu trauern", legte er den Finger in die Wunde der von den Deutschen nach 1945 lange "verdrängten" NS-Vergangenheit. 1969 erhielt er den Friedenspreis des deutschen Buchhandels.
"Mitscherlich setzte große Hoffnungen in die protestierende studentische Jugend", sagt Freimüller. "Sie versprach die Selbsterziehung zur Mündigkeit tatsächlich zu vollziehen." Später folgte allerdings die große Enttäuschung. Die Protestbewegung schien ihm ihrerseits in Ideologie abgeglitten zu sein.
"Mitscherlichs Thesen, vor allem die Titel seiner Bücher, lieferten eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft der sechziger Jahre", sagt Tobias Freimüller. "Die Unfähigkeit zu trauern", die "vaterlose Gesellschaft" und die "Unwirtlichkeit der Städte" wurden zu Schlagworten, die auch von denen benutzt werden konnten, die die Bücher Mitscherlichs gar nicht gelesen hatten.
Mitscherlichs Verhältnis zu "Achtundsechzig" und der Zusammenhang zwischen "Psychoanalyse und Protest" wird auch das Thema eines Symposiums sein, das vom "Jena Center. Geschichte des 20. Jahrhunderts" am 25. und 26. April in Jena veranstaltet wird. Dazu sind namhafte Historiker und Psychoanalytiker ebenso wie Weggefährten Mitscherlichs eingeladen. Anmeldung zur öffentlichen Tagung unter: jena.center@uni-jena.de
Tobias Freimüller: Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hitler, 480 S., Wallstein Verlag Göttingen 2007, Preis: 39 Euro, ISBN 3-8353-0187-X
Kontakt:
Dr. Tobias Freimüller
Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Fürstengraben 13, 07743 Jena
E-Mail: tobias.freimueller[at]uni-jena.de
Dr. Tobias Freimüller von der Universität Jena.
Foto: privat
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Cover von Freimüllers Buch "Alexander Mitscherlich. Gesellschaftsdiagnosen und Psychoanalyse nach Hi ...
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Criteria of this press release:
History / archaeology, Psychology, Social studies
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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