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07/31/2008 11:28

Interview im aktuellen Magazin Mitbestimmung - Fritz Scharpf: EuGH hebelt wichtige nationale Rechtsgüter aus

Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung

    Eine "Radikalisierung der Binnenmarktintegration" mit negativen Folgen für die europäischen Sozialstaaten konstatiert Prof. Dr. Fritz Scharpf nach mehreren umstrittenen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Die so genannten "Grundfreiheiten" der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft - Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit sowie die freie Mobilität von Personen, Kapital und Waren - würden vom EuGH und Teilen der EU-Kommission verabsolutiert: "Dem EuGH kann die kleinste Belästigung der Ausübung einer Grundfreiheit Anlass sein, um ein wichtiges nationales Rechtsgut auszuhebeln", sagt der langjährige Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung im Interview mit dem Magazin Mitbestimmung.
    Solche Entscheidungen schwächten wichtige soziale oder Arbeitnehmerrechte und nationalstaatliche Institutionen. Durch ihre Rechtsinterpretation, "die nationale Unterschiede unmöglich macht", koppelten sich die Europa-Richter zunehmend von den politischen Zielsetzungen der europäischen Integration ab, warnt der Politikwissenschaftler: "Die radikale Liberalisierung ist ein Ergebnis der richterlichen Interpretation der Verträge, nicht ein Ergebnis der politisch verantworteten Gesetzgebung." Die Entwicklung lasse sich nur aufhalten, wenn Regierungen problematische Urteile des EuGH konsequent vor die politischen Entscheidungsgremien der EU brächten.

    Im vergangenen Jahr hatte der EuGH eine Entscheidung getroffen, die die Geltung schwedischer Tarifverträge für ausländische Arbeiter auf schwedischen Baustellen verneinte und das Streikrecht schwedischer Gewerkschaften einschränkte. Zuletzt stuften die Luxemburger Richter überraschend das niedersächsische Tariftreue-Gesetz als europarechtswidrig ein, das noch 2006 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungskonform erklärt worden war. Derzeit zeichne sich ein ähnlich scharfer Konflikt um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland ab, sagt Scharpf: "Während das Bundesverfassungsgericht ihm eine politische und verfassungsrechtlich garantierte Funktion zuschreibt, behandelt das Europarecht das Fernsehen als eine kommerzielle Dienstleistung."

    Anhand solcher Debatten ließen sich gravierende Unterschiede zwischen den Gerichten beobachten, betont der Wissenschaftler: "Unsere Verfassungsgerichtsbarkeit handelt in einem öffentlichen Raum, im Kontext öffentlicher politischer Diskurse und in Kenntnis der besonderen deutschen institutionellen Tradition und politischen Wertungen." Das europäische Gericht hingegen könne "gar nicht in 27 Mitgliedsstaaten in dieser Weise politisch integriert sein, es kann nur über alle nationalen Unterschiede hinweg einheitliche europarechtliche Normen formulieren", so Scharpf im Magazin Mitbestimmung. Gleichwohl habe "rechtlich heute ein EuGH-Urteil einen höheren Rang als ein Bundesverfassungsgerichtsurteil."

    Die zentrale Position des EuGH und seine Tendenz zur Vereinheitlichung steht nach Scharpfs Einschätzung in deutlichem Widerspruch zu den großen Unterschieden zwischen den Staaten der EU. Diese hätten bislang verhindert, dass sich ein funktionierendes europäisches Sozialmodell herausbilden konnte, sagt der Wissenschaftler: "Von einem europäischen Sozialmodell konnte man in gewisser Hinsicht reden, wenn man die EU 15 mit den Amerikanern verglichen hat. Mit den 27 EU-Ländern ist auch das nicht mehr aufrechtzuerhalten."

    Als Möglichkeit, um "die Anwendung des Europarechtes gegen die existierenden nationalen Sozialmodelle einzuschränken", sieht der Politikwissenschaftler die Nichtbefolgung und breite politische Diskussion von problematischen EuGH-Entscheiden: "Die Regierung könnte erklären: Wir halten dieses EuGH-Urteil für nicht gedeckt durch die politische Willensbildung. Dieses Urteil ist reines Richterrecht, das nie politisch akzeptiert wurde. Wir akzeptieren jedoch ein Votum des Ministerrats, falls dieser das Urteil bestätigt", sagt der Wissenschaftler. Auf diese Weise lasse sich die europäische Politik wieder ins Spiel bringen "und fragen: `Habt ihr das wirklich politisch gewollt, was die Richter hier machen? Wenn eine qualifizierte Mehrheit der Länder Ja sagt, dann werden wir weiterhin das Europarecht vollziehen.´"

    Aus Sicht von Scharpf ist eine derartige Doppelstrategie alternativlos: "Es wäre die einzige Strategie, mit der man nicht die generelle Unterstützung für die europäische Integration aufkündigen müsste und trotzdem Widerstand leisten könnte gegen diese zu weit gehende richterliche Interpretation von Verträgen, die vor mehr als 50 Jahren geschlossen wurden."


    More information:

    http://www.boeckler.de/320_91942.html - PM mit Ansprechpartnern
    http://www.boeckler.de/107_91911.html - Das komplette Interview mit Prof. Dr. Scharpf im neuen Magazin Mitbestimmung
    http://www.boeckler.de/107.html - Die aktuelle Ausgabe 7/8 des Magazins Mitbestimmung


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    Criteria of this press release:
    Economics / business administration, Law, Politics, Social studies
    transregional, national
    Scientific Publications, Transfer of Science or Research
    German


     

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