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Wissenschaft
Bochum, 13.08.1997 Nr. 144
Selbstbestimmung versus Staatssouveränität Rechte der Völker und Minderheitenschutz neu definiert RUB-Völkerrechtler über Beilegung ethnischer Konflikte
Im Namen des Selbstbestimmungsrechtes der Völker fielen Staatengebilde wie Jugoslawien oder entstanden neue wie nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Aber die Freiheit der Völker hat zwei Gesichter: Mit dem Postulat, Menschenrechte zu schützen, stabilisierten sich einerseits ethnische Identitäten. Separatistische Entwicklungen in den Ländern Osteuropas warfen aber andererseits auch Fragen auf, wo solches Recht die internationale Stabilität bedroht und die Grenzen des Selbstbestimmungsrechtes beginnen. Gemeinsam mit der SPD-nahen Stiftung Entwicklung und Frieden hat der Bochumer Völkerrechtler Dr. Hans-Joachim Heintze (Institut für Friedenssicherungsrecht und Humanitäres Völkerrecht der RUB) einen Sammelband ,Selbstbestimmungsrecht der Völker - Herausforderung der Staatenwelt. Zerfällt die internationale Gemeinschaft in Hunderte von Staaten?" herausgegeben, der politische Instrumente wie Autonomie, Selbstbestimmungsrecht, Minderheitenschutz oder Souveränität der Staaten zu entwirren und neu zu bestimmen hilft.
Grundfragen, Beispiele und die Arbeit internationaler Organisationen
Heintzes Sammelband gliedert sich in drei Kapitel: Im ersten werden theoretische Grundfragen über Autonomie und Sezession erörtert. Anschließend wird auf die Tätigkeiten internationaler Organisationen wie Vereinte Nationen, Europarat oder OSZE hingewiesen. Praktische Beispiele über Formen des Zusammenlebens zuvor verfeindeter Volksgruppen wie Aseris und Armenier oder die rechtliche Stellung der Sorben in Deutschland werden im Abschlußkapitel vorgestellt.
Volksouveränität bedeutet nicht Staatsouveränität
Einleitend eröffnet der Herausgeber die vielfältigen Wege, die zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker in den Staaten führen. Dabei zieht sich wie ein roter Faden hindurch, daß ein Selbstbestimmungrecht des Volkes nicht mit dem Recht auf einen eigenen Staat gleichzusetzen ist. Denn schließlich habe ein Volk bei der Verwirklichung seiner Selbstbestimmung auch die Rechte anderer Völkerrechtssubjekte zu berücksichtigen, so der Tenor der Autoren. Deshalb gilt es immer, zwischen der Souveränität eines Staates und dem Selbstbestimmungsrecht abzuwägen. Schlußfolgernd beinhaltet das Selbstbestimmungsrecht nicht Unabhängigkeit, sondern letztlich Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft.
Autonomie baut ethnische Konflikte ab
Ein wichtiger Schritt, so der Herausgeber, die ethnische Identität und die Rechte von Minderheiten zu stärken, ist die Gestattung von Autonomie, auf die es aber keinen (völkerrechtlichen) Rechtsanspruch gibt und die lediglich innerhalb des Schutzes der Menschenrechte verankerbar ist. Autonomie oder föderative Gebilde mit dem Ziel, Herrschaft zu teilen, führten in der Vergangenheit sogar zu einem Abbau ethnischer Konflikte.
Bezug zu Deutschland
Interessant macht dieses Buch der Bezug zu Deutschland, wo Fragen zu Minderheitenschutz und Selbstbestimmungsrecht bislang keine Rolle zu spielen schienen. Die Frankfurter Völkerrechtlerin Carmen Thiele macht deutlich, daß der Verfassungsgeber den Minderheitenschutz nicht ins deutsche Grundgesetz aufnahm und er deshalb nur über die individuellen Freiheitsrechte wie Unantastbarkeit der Menschenwürde oder das Diskriminierungsverbot einzufordern ist. Dies, so Thiele, stelle jedoch nur eine Vorstufe eines Minderheitenschutzes dar und keinen besonderen Schutz oder sogar ihre Förderung, wie es ein Gruppenschutz im Sinne der vereinten Nationen garantiere. Deshalb empfahl auch mittlerweile die Kommission Verfassungsreform des Bundesrates eine Grundgesetzänderung mit einem Minderheitenschutzartikel, fand aber bislang dazu keine Mehrheit. Anders hier die Landesverfassungen, wo ethnische Minderheiten in Deutschland wie Friesen, Dänen oder Sorben staatlichen Schutz genießen, der jedoch nicht mit einem Selbstbestimmungsrecht zu verwechseln ist. Solcher Schutz gilt jedoch nicht für Juden, Sinti und Roma oder die Ruhrpolen, so die Autorin Thiele.
Staatsbürgerschaft und nationale Identität oft verschieden
Daneben erörtert der Beitrag der britischen Juradozentin Francoise Hampson das spannungsreiche Verhältnis von Staatsbürgerschaft und Nationalität, das sich bspw. in Großbritannien in der "schottischen Nationalität" zur ,britischen Staatsbürgerschaft" äußert. Staatsbürgerschaft, so die Wissenschaftlerin der University of Essex, bezieht sich nicht notwendigerweise auf nationale Identität, die eine entwickele sich ,von oben nach unten", die andere umgekehrt. Wird regionaler Identität aber kein Raum gewährt, klärt die Wissenschaftlerin auf, eröffnet dies nachdrückliche Forderungen nach Unabhängigkeit.
Diskussion zu Minderheitenstatut auch in Deutschland immer dringender
Heintzes Kompendium greift auf den Heidelberger Workshop ,Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker innerhalb bestehender Staaten" (1996) zurück. Angesichts der zahlreichen ethnischen Mehr- oder Minderheiten auch in der BRD, der Auswirkungen internationaler Bewegungen auf die nationale Politik und der Entwicklung des Landes hin zu einem Einwanderungsland, eröffnet das Buch grundlegende und aktuelle Diskussionen der Gegenwart und Zukunft.
Titelaufnahme
Hans-Joachim Heintze (Hg.): Selbstbestimmungsrecht der Völker- Herausforderung der Staatenwelt. Zerfällt die internationale Gemeinschaft in Hunderte von Staaten? J.H.W. Dietz: Bonn 1997. 384 S., 24,80 DM (ISBN 3-8012-0247-X)
Criteria of this press release:
History / archaeology, Law, Politics, Social studies
transregional, national
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