idw - Informationsdienst
Wissenschaft
Bochum, 10.03.1997 Nr. 52
Auch ein deutsches Problem: Kinderarbeit und Strassenkinder
Kulturvergleichender Sammelband von RUB-Wissenschaftlerin
Passend zur aktuellen Diskussion um Kinderarbeit hat Prof. Dr. Christel Adick (Vergleichende Erziehungswissenschaft, Institut fuer Paedagogik der RUB) einen Sammelband zum Thema ,Strassenkinder und Kinderarbeit. Sozialisationstheoretische, historische und kulturvergleichende Studien" herausgegeben, der angesichts der verstaerkten Globalisierung der Weltwirtschaft die zunehmende Bedeutung der Strassenkinder und die oft damit einhergehende Kinderarbeit international vergleicht. Angesichts des kapitalistischen Wirtschaftssystems, so Adick, produziert Globalisierung Armut und als Konsequenz daraus die Strassenkinder.
Ausbeutung oder Bestandteil von Erziehung
Bei der aktuellen Diskussion um ,Kinderarbeit" klaffen derzeit die Meinungen zwischen Vertreter/innen der ,entwickelten" industriellen Laender und der sogenannten Dritten Welt noch weit auseinander. Fordern die einen den strikten Handelsboykott jener Laender, die Kinderarbeit betreiben, so die betroffenen Laender die Beseitigung der ausbeuterischen Formen von Kinderarbeit wie Sklavenhaltertum und Pornografie oder Prostitution mit Minderjaehrigen. In Afrika gilt Kinderarbeit z.B. auch als Bestandteil von Erziehung, so der senegalesische Arbeitsminister Diop auf der internationalen Amsterdamer Konferenz zu Kinderarbeit. Anstatt eines totalen Boykotts der Kinderarbeit fordert er einen hoeheren Schutz der arbeitenden Kinder.
Nicht nur ,auf Trebe"
Das internationale Fluechtlingswerk UNICEF schaetzt die Zahl der Strassenkinder auf 80 Millionen weltweit. Die internationale Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen ILO spricht von bis zu 250 Millionen arbeitenden Kindern unter 14 Jahren. Kinder auf der Strasse sind aber nicht allein ein Symptom der ausgebeuteten Laender. Auch in wohlhabenden Industrielaendern wie Deutschland sind sie anzutreffen: In Koeln wird die Zahl der ,auf Trebe" gehenden Kinder und Jugendlichen auf 40.000 geschaetzt. Die Bundesregierung gibt ihre Zahl mit zwischen 5000 und 7000 an und gab juengstens durch das Bonner Familien- und Jugendministerium eine Studie beim Deutschen Jugendinstitut in Auftrag, die den Zeitraum zwischen 1994 bis 1997 umfassen wird.
Von Bahnhofskindern und von Killerkomandos Verfolgten
Aus der Arbeit Christel Adicks geht hervor, dass Strassenkinder und Kinderarbeit nicht zwingend miteinander etwas zu tun haben muessen. Die dort zu Wort kommenden Wissenschaftler/innen subsumieren unter Strassenkinder die Ausreisser, Aussteiger, Trebegaenger oder auch die Bahnhofskinder. Deren Situation in Westeuropa ist kaum mit der in Suedamerika vergleichbar. Sie resultiert nicht aus oekonomischen Gruenden. Viel eher stecken dahinter Beziehungs- und Betreuungsprobleme mit Familien oder engen Angehoerigen, denen sich die Kinder entziehen. Auch werden die Strassenkinder Deutschlands nicht von Killerkommandos verfolgt wie in Brasilien, stellt die Studie Adicks klar. Aber Strassenkinder in Deutschland sind dennoch schlechter organisiert und rechtlich abgesichert wie ihre ,Kolleg/innen" in der brasilianischen Kinderrechtsbewegung.
,Lebensraum Strasse"
,Lebensraum Strasse" heisst nicht gleich Obdachlosigkeit, berichtet Prof. Dr. Juergen Zinnecker von der GH-Uni Siegen in einem Kapitel, sondern umfasst saemtliche oeffentlich zugaenglichen Bereiche. Auch wird er von Kindern im Alter zwischen 6 und 8 Jahren als ein Ort sozialen Lernens benutzt. Auf der Strasse zu sein, verweist nach Zinnecker auch auf geschlechtsspezifische Lebensweisen: Maedchen besitzen einen anderen ,Zugang" zur Strasse als Jungen und betreten sie eher zweckorientiert zum Einkauf als zum blossen Flanieren.
Die vielen Gesichter der Kinderarbeit
Den Milieubruch, wie ihn diese Strassenkinder aufweisen, kennen dagegen die arbeitenden Kinder kaum, so Adick. Kinderarbeit besitzt in der traditionellen Bettelarbeit der Koranschueler oder historisch in der industriellen Ausbeutung in den alten Manufakturen Englands viele Gesichter. Kinder arbeiteten als Sklaven auf den Baumwollfeldern Nordamerikas. Die Arbeit von Kindern ist bis heute im Kastensystem Indiens verankert und auch in Deutschland zur Landarbeit anzutreffen. Den Schonraum ,Kindheit" - im Europa an der Wende zum 18. Jahrhundert konstruiert - gab es nie ausserhalb seiner Grenzen, stellt diese Studie klar, und er verblasst auch hier immer mehr zu einem blossen Schatten einer paedagogischen Fiktion.
Inhaltlicher Aufbau
Neben der definitorischen Trennung zwischen Strassenkinder und Kinderarbeit arbeitet der Sammelband Christel Adicks Strassenkindheit und Kinderarbeit historisch und sozialisationstheoretisch auf. Ein anschliessendes Kapitel stellt Studien zur aktuellen Situation von Strassenkindern und arbeitenden Kindern aus Laendern wie Afrika, Asien, Lateinamerika und Europa vor. Als Ausbildungslektuere oder Seminarreader fuer Studierende gedacht, fasst der Sammelband den derzeitigen Diskussionsstand zusammen und bezieht dabei die vielfaeltigen und unterschiedlich methodologischen Erklaerungskonzepte aufeinander. So betrachtet sind Strassenkindheit und Kinderarbeit nicht laenger allein laender- und regionalspezifisch zu betrachten. Ihr Buch stellt die Herausgeberin Adick - die sich selbst auf Forschungreisen im Senegal aufhielt - in den Rahmen einer vergleichenden Erziehungswissenschaft, die als historisch bewusste und gesellschaftskritische Sozialwissenschaft zur Aufklaerung von globalisierten Sozialisationsprozessen beitragen will.
Titelaufnahme
Christel Adick (Hg.): Strassenkinder und Kinderarbeit, Sozialisationstheoretische, historische und kulturvergleichende Studien, (Historisch-vergleichende Sozialisations- und Bildungsforschung, Band 1), Frankfurt am Main: IKO-Verlag fuer interkulturelle Kommunikation, 1997, 303 S., 34,80 DM (ISBN 3-88939-236-9)
Criteria of this press release:
Economics / business administration, History / archaeology, Social studies
transregional, national
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