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Wissenschaft
(19. April 2010) Einen großen Fortschritt bei der Therapie von Primären Lymphomen des Zentralen Nervensystems vermeldet ein Team deutscher Neurologen und Onkologen in der Fachzeitschrift Annals of Neurology: Mehr als acht Jahre nachdem 65 Patienten mit einer speziellen Form der Chemotherapie behandelt wurden, scheinen etwa ein Drittel aller Studienteilnehmer und etwa die Hälfte der unter 60jährigen geheilt. Durch den Verzicht auf die bei dieser Tumorform bislang übliche Strahlentherapie gelang es den Wissenschaftlern überdies, schwere geistige Beeinträchtigungen zu vermeiden, die als Langzeitfolgen einer kombinierten Therapie besonders gefürchtet sind.
"Diese langjährige Tumorkontrolle ohne Einschränkung der Lebensqualität ist neu und bislang mit keiner anderen Therapieform erreicht worden", freut sich Studienleiter Professor Dr. Uwe Schlegel, Direktor des Knappschaftskrankenhauses/Klinik für Neurologie der Ruhr-Universität in Bochum. Noch vor 20 Jahren waren primäre Lymphome des Zentralen Nervensystems mit einer Lebenserwartung von lediglich einem bis zwei Jahren verbunden, erinnerte Schlegel. Unter einer Kombination aus Radio- und Chemotherapie haben sich die Überlebenszeiten seitdem erheblich verbessert - eine Reihe von Studien hatte einen Zuwachs der Lebenserwartung auf durchschnittlich 25 bis 60 Monate dokumentiert. Doch dieser Fortschritt hatte einen hohen Preis: "Oft weisen Patienten nach einer Kombination von Strahlen- und Chemotherapie erhebliche geistige Leistungseinschränkungen auf, die im schlimmsten Falle zu vollkommener Pflegebedürftigkeit führen", so Schlegel.
Deutsche Zentren erprobten neuartige Therapie
Einen möglichen Ausweg aus dem Dilemma suchten vier deutsche Zentren, die zwischen 1995 und 2002 auf die Strahlentherapie verzichteten und stattdessen eine Kombination aus systemischer und intraventrikulärer Polychemotherapie erprobten. Insgesamt 65 Patienten mit einem primären ZNS-Lymphom, die zum Zeitpunkt der Diagnose zwischen 27 und 75 Jahre alt waren, wurden in diesem Zeitraum behandelt. Neben der systemischen - also intravenösen - Chemotherapie erhielten sie zusätzlich über ein kleines Reservoir unter der Kopfhaut ihre Medikamente in die mit Flüssigkeit gefüllten Hirnkammern (Ventrikel) verabreicht.
Wie die Wissenschaftler um Professor Schlegel jetzt nach durchschnittlich mehr als acht Jahren Beobachtungszeit in der Fachzeitschrift Annals of Neurology berichten, war die aufwändige Behandlung überaus erfolgreich: 21 der 65 Patienten sind noch am Leben, davon mehr als die Hälfte der unter 60-Jährigen. Seit nunmehr fünf Jahren sind keine Patienten mehr gestorben, was nahelegt, dass die Krankheit in diesen Fällen nicht nur gebremst, sondern tatsächlich auch geheilt wurde. "Dieses Ergebnis belegt einmal mehr den hohen Stand der medizinischen Versorgung hierzulande sowie die hervorragende Zusammenarbeit zwischen Neurologen und Onkologen", lobte Prof. Dr. Heinz Reichmann, 1. Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. "Auch im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der Behandlung bösartiger Hirntumoren weit vorne", so Reichmann weiter.
Psychotests zeigen keine Leistungseinbußen
Besonders erfreulich an der Studienauswertung ist, dass sich die Hoffnung auf eine hochwirksame Therapie ohne intellektuelle Leistungseinbußen und mit guter Lebensqualität weitgehend erfüllt hat. Dies konnte das Forscherteam durch eine ganze Reihe von neuropsychologischen Tests dokumentieren. In fünf der sieben gemessenen Bereiche unterschieden sich die geistigen Leistungen der Studienteilnehmer Jahre nach der Therapie nicht mehr von der Allgemeinbevölkerung, was auch deshalb bemerkenswert ist, weil bei den meisten hier bereits zum Zeitpunkt der Diagnose Defizite festgestellt worden waren. Während die Kombination aus Chemo- und Strahlentherapie selbst bei jüngeren (unter 60 Jahren) Patienten etwa in einem Drittel aller Fälle zu erheblichen geistigen Einbußen führt, war dies bei keinem einzigen der 17 jüngeren Patienten in der aktuellen Studie der Fall.
72 Prozent der Patienten werteten ihre Lebensqualität mehr als acht Jahre nach der Diagnose als "gut" oder "sehr gut". Lediglich im sozialen Bereich hatte die Lebensqualität in dieser Zeit deutlich abgenommen, was aber auch bei gesunden Personen als Folge des normalen Alterungsprozesses häufig beobachtet wird.
Mit diesen beeindruckenden Ergebnissen wollen sich die Neurologen und Onkologen um Schlegel dennoch nicht zufrieden geben. Insbesondere bei den älteren Patienten sehen sie noch reichlich Bedarf für Verbesserungen. "Außerdem", warnt Schlegel: "handelt es sich um eine kleine Gruppe von Patienten und um eine sehr aufwändige Behandlung, die wegen des intraventrikulären Zugangs über ein Reservoir noch nicht allgemein akzeptiert ist." Daher sei als nächster Schritt eine große, deutschlandweite multizentrische Therapiestudie zur Überprüfung dieses Konzeptes geplant.
Hintergrundinformationen zum Primären ZNS-Lymphom:
Unter einem Primären ZNS-Lymphom versteht man ein Lymphom, welches ausschließlich das Zentrale Nervensystem (ZNS) betrifft. Dabei können Gehirn, Hirnhäute (Meningen) und - selten - das Rückenmark befallen sein. Zusätzlich sind bei 10 bis 20% der Patienten die Augen entweder bereits von Anfang an oder aber im weiteren Verlauf der Erkrankung betroffen. Mehr als 95% der Primären ZNS-Lymphome sind hochmaligne Non-Hodgkin-Lymphome vom B-Zell-Typ. Warum ein solches Lymphom im Gehirn entsteht, ist nicht vollständig geklärt. Ortsständige Lymphozyten, aus denen sich Tumorzellen entwickeln könnten, sind unter normalen Bedingungen im Gehirn nicht vorhanden. Tatsache ist, dass diese Tumoren immer häufiger werden und heute ca. 4% der primären, d.h. nicht-metastatischen, Tumoren des Gehirns ausmachen. Betroffen sind Patienten mit einer Schwächung des Immunsystems, z.B. AIDS-Kranke, aber mit zunehmender Häufigkeit auch sonst völlig gesunde Personen. Diese zweite Patientengruppe macht sogar den größeren Anteil der Patienten aus. Mehr als die Hälfte der Betroffenen leidet zunächst unter einem "Organischen Psychosyndrom", also unter sich schnell entwickelnden geistigen Leistungseinbußen und Persönlichkeitsveränderungen. Hinzutreten oder isoliert auftreten können Lähmungen, Sehstörungen, Sprachstörungen, epileptische Anfälle und andere neurologische Symptome. Die Erkrankung kann praktisch alle Altersgruppen betreffen, am häufigsten jedoch Menschen zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr.
Quelle:
Schlegel, U. et al. Long-term survival with favorable cognitive outcome after chemotherapy in primary central nervous system lymphoma. Ann Neurol 2010 Feb;67(2):182-9
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Prof. Dr. med. Uwe Schlegel
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Medicine
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