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10/08/2010 10:33

Der geheime Verführer Ernest Dichter

Stephan Laudien Stabsstelle Kommunikation/Pressestelle
Friedrich-Schiller-Universität Jena

    Historiker Prof. Dr. Rainer Gries von der Universität Jena verfasst Buch über „Werbeguru“

    Jena (08.10.10) Ein dahinbrausendes Auto mit lächelnden Insassen in einer zauberhaften Landschaft: Diese Kulisse gehört zum Standardrepertoire der Autowerbung. Die Botschaft lautet Fahrspaß, Dynamik, Freiheit. Das Auto wird nicht nur als Gebrauchsgegenstand angeboten, es soll Emotionen wecken und Sehnsüchte bedienen. Hinter Werbebotschaften steht die Idee, jedes Erzeugnis habe eine „Seele“, weil Konsumenten ihre Wünsche und Sehnsüchte auf Produkte projizieren. Ein geschickter Verkäufer kennt diese Kaufmotive und weiß sich ihrer zu bedienen.

    Dem „Vater der Motivforschung“ Ernest Dichter hat der Historiker Prof. Dr. Rainer Gries von der Friedrich-Schiller-Universität Jena eine neue Publikation gewidmet. Gemeinsam mit seinem Fachkollegen Prof. Dr. Stefan Schwarzkopf von der Copenhagen Business School hat Gries das englischsprachige Buch „Ernest Dichter and Motivation Research. New Perspectives on the Making of Post-War Consumer Culture“ herausgegeben.

    Im Mittelpunkt der Untersuchung steht der gebürtige Wiener Ernest (Ernst) Dichter (1907-1991), ein Pionier der sogenannten Motivforschung. Dichter, der Emigrant aus Wien, hatte sich in den Vereinigten Staaten seit 1938 einen Namen gemacht. Der Produktpsychologe und Marketingexperte verfocht ein doppeltes Verständnis von „Aufklärung“. Einerseits die Aufdeckung der menschlichen Seele, die einem verborgenen und tabuisierten „Reich der Wünsche“ gleichkomme. Und andererseits die Aufdeckung der „Seele der Produkte“: Waren wurde von ihm ein nicht minder tabuisiertes „Innenleben“ zugeschrieben. Nach Meinung Dichters galt es, die Tiefenstruktur der Verbraucher und die korrelierende psychische Tiefenstruktur der Produkte zu ergründen. Der „Werbeguru“ übertrug das Freudsche Modell also auf die Objekte der Begierde selbst. Er personalisierte damit die Warenwelt und stellte die Beziehungen zwischen Produkt und Verwender, zwischen der „Persönlichkeit des Produktes“ und der Persönlichkeit des Konsumenten in den Mittelpunkt. Dichter und seine Kollegen nutzten Erkenntnisse der Gestaltpsychologie und der Psychoanalyse, um diese „Seele“ der Produkte aufzuspüren. In einem zweiten Schritt ging es ihm darum, Strategien zu entwickeln, Produkt-„Seele“ und Verbraucher-„Seele“ in Einklang zu bringen. Das Auto ist nur ein Beispiel, Dichter nahm fast alle Produkte des Alltagslebens unter die Lupe.

    „Dichter gilt als ‚Vater der Motivforschung’; er war keineswegs der erste, aber der bekannteste seiner Zunft“, sagt Prof. Dr. Rainer Gries von der Uni Jena. An der Universität Wien, wo Gries eine Vertragsprofessur innehat, fand der Historiker über 3.500 Produkt- und Markenstudien Dichters. „Ernest Dichter war einer der erfolgreichsten Werbeberater des 20. Jahrhunderts. Er hat das Antlitz unserer heutigen Produktlandschaften maßgeblich mitgestaltet“, so Gries.

    Die Autoren zeichnen das faszinierende Bild eines Mannes, der sich Zeit seines Lebens als Außenseiter sah: als rothaariger Junge in Wien, als Jude im Jahr 1938 und als Emigrant in den Vereinigten Staaten. Daher war sein Leben stets von dem Wunsch geprägt, um jeden Preis dazu zu gehören: Er beobachtete den Mainstream genau – und beriet seine Auftraggeber auf „die Mitte“ hin. Dichter polarisierte schon zu Lebzeiten. So wurde er einerseits aufgrund seiner Erfolge zunächst in den USA und später in Europa euphorisch gefeiert, als eine Art Messias der Werbung verehrt. Zum anderen schlug ihm offene Feindseligkeit entgegen: „Es gab Vorbehalte und Ängste, weil man ihm unterstellte, Menschen manipulieren zu können“, sagt Gries.

    Dichter lieferte mit seinen Produktstudien überraschende Erkenntnisse über die Konsumgewohnheiten des Durchschnittsbürgers. Für einen amerikanischen Nahrungsmittelkonzern fand er heraus, dass Hausfrauen es nicht schätzten, wenn sie bei „fertigen“ Kuchenmischungen weder Eier noch Milch hinzufügen mussten. Das Kuchenbacken werde von den Frauen unbewusst mit der Geburt und dem Aufziehen eines Babys gleichgesetzt. Für beides waren ein Ei (das entsprach im Dichterschen Denken der Gebärmutter) und Milch (mithin Muttermilch) von Nöten.

    Das Buch von Gries und Schwarzkopf erlaubt einen Blick auf die unbewussten Spielregeln der Konsumgesellschaft. Diese Regeln lassen sich kritisch hinterfragen, sich ihnen zu entziehen fällt schwer. „Dichters Wirken wirft ein neues Licht auf den vielbeschworenen Kulturimport aus den USA nach Europa“, sagt Rainer Gries. Im Falle Dichters sei es eher ein Transfer von Ideen aus Europa in die USA und später wieder zurück gewesen. Ernest Dichter und seine Psychologie der Produkte: eine transatlantische Erfolgsgeschichte.

    Bibliographische Angaben:
    Rainer Gries, Stefan Schwarzkopf (Hg.): Ernest Dichter and Motivation Research. New Perspectives on the Making of Post-War Consumer Culture, Verlag Palgrave Macmillan, London 2010, 288 Seiten, Preis: 66,99 Euro, ISBN 0-230-53799-5

    Kontakt:
    Prof. Dr. Rainer Gries
    Historisches Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena
    Fürstengraben 13, 07743 Jena
    Tel.: 03643 / 401539, mobil: 01520 / 9887742
    E-Mail: rainer.gries[at]univie.ac.at


    More information:

    http://www.uni-jena.de


    Images

    Cover der neuen Publikation.
    Cover der neuen Publikation.

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    Ernest Dichter.
    Ernest Dichter.
    Quelle: Archiv
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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Media and communication sciences
    transregional, national
    Scientific Publications
    German


     

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