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Wissenschaft
Bochum, 25.09.1997 Nr. 171
Statt literarische Säulenheilige aufzuzählen ... ... ,erlebte Landeskunde" und moderne Methodenvielfalt VW-Stiftung fördert RUB-Germanistik-Projekt in Rußland
Seit der Stalinzeit war die Germanistik in Rußland von Parteigeist beseelt: Undenkbar war eine kritische und ihrer eigenen Methoden bewußte Literaturwissenschaft - Theorienvielfalt vertrug sich nicht mit ideologischem Einheitsbrei. Als sich mit Beginn der 90er Jahre das Blatt wendete, ermöglichte der Staat zwar eine engagierte Germanistik, aber dafür fehlte nun das geeignete Personal. Diese Lücke möchte das Germanistische Institut der RUB schließen helfen. Dazu dient das Projekt ,Aufbau eines literaturwissenschaftlichen und landeskundlichen Zusatzstudiums für Studierende der Germanistik an der Pädagogischen Universität Kasan" von PD Dr. Werner Jung und Prof. Dr. Martina Wagner-Egelhaaf und ihrer Partnerin in Rußland, Dr. Larissa Volkova, Leiterin des Lehrstuhls für Deutsch an der Pädagogischen Universität Kasan. Das Vorhaben fördert die Volkswagen-Stiftung in den nächsten zwei Jahren.
Ausgangsbedingungen in Russland
Der sowjetische Totalitarismus hatte den Fremdsprachenunterricht bewußt auf reinen Spracherwerb reduziert. So lehrte man an den Universitäten keine Germanistik, sondern hielt Deutschunterricht ab. Anhand literarischer Texte erklärten die Dozenten vor allem sprachliche Besonderheiten. Ein weitergehendes Wissen über politische Kultur, Mentalität oder spezielle Jugendthemen überschritt die Grenzen ideologischer Zulässigkeit: Problembewußtsein war nicht gefragt.
Auf zu neuen Ufern
Das ,Wimmeln von Willkür" (Hegel) liegt den Bochumer Germanisten durchaus am Herzen, denn eine produktive und fruchtbare Verunsicherung von Studenten und Dozenten ist erwünscht! Die Wissenschaftler der RUB möchten verschiedene Perspektiven einschließlich ,erlebter Landeskunde" bieten - von hermeneutischen Theorien über literaturpsychologische und -soziologische Ansätze bis hin zu konstruktivistischen, systemtheoretischen und poststrukturalistischen Konzepten. Bei diesem ambitionierten Programm gilt: Die einzig richtige Lesart eines Textes gibt es nicht. Es reicht also in der Germanistik nicht, Säulenheilige der Literatur aufzuzählen. Kreativität heißt das Ziel. Auch wenn jeder den Weg dorthin allein gehen muß, können methodische Überlegungen doch den Intuitionen auf die Sprünge helfen.
Aufbau eines Zusatzstudiums
Auch heute gibt es Richtlinien des zuständigen Bildungsministeriums, das Mindestanforderungen, Stundensoll und Inhalte der Kurse vorschreibt. Die Bochumer Wissenschaftler wollen nun mit ihren russischen Partnern ein Zusatzstudium aufbauen. Die Initiatoren betonen, daß es unerläßlich ist, diesen Ausbildungsteil auf russischer Seite ,strukturell und konzeptionell vom Rektor" billigen zu lassen.
Zum Standort Kasan
Die Pädagogische Universität in Kasan besitzt eine Fremdsprachenfakultät mit langer Tradition. Die Germanistik ist gut ausgebaut: 150 Direkt- und 70 Fernstudenten studieren hier Deutsch als Hauptfach, weitere 250 studieren es als Nebenfach. Mit 20 Dozenten am Lehrstuhl für Deutsch ist das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden optimal. Kasan bringt so die Voraussetzungen mit, zum Zentrum der Germanistenausbildung in Tatarstan und in der Wolgaregion zu werden. Bereits jetzt geht von Kasan auch ein Einfluß aufs Umland aus: Hochschullehrer der Pädagogischen Universität hospitieren in Fachhochschulen, veranstalten Nachwuchsseminare oder sind bei der Auswahl von Büchern behilflich. Die Wissenschaftler bemühen sich vor allem, einen immensen Mangel an Fachkräften zu beseitigen: Auf dem Lande wird überhaupt kein Fremdsprachenunterricht erteilt.
Weitere Informationen
PD Dr. Werner Jung, Ruhr-Universität Bochum, Germanistisches Institut, 44780 Bochum, 0234/700-2570, privat: 02065/47486
Criteria of this press release:
History / archaeology, Law, Politics, Social studies
transregional, national
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German
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