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Die Entstehung des klassischen deutschen Bildungsdenkens stellt RUB-Philosoph Dr. Dimitri Liebsch auf den Prüfstand. Ergebnis seiner kritischen Auseinandersetzung: Den vermeintlich neuzeitlichen Bildungsgedanken des 18. Jahrhunderts prägt ein "moderner Antimodernismus".
Bochum, 17.10.2001
Nr. 307
Gescheitert: das Projekt ästhetische Bildung
RUB-Philosoph zweifelt an der Neuzeitlichkeit
"Moderner Antimodernismus" im Bildungsgedanken
Die Entstehung des klassischen deutschen Bildungsdenkens stellt RUB-Philosoph Dr. Dimitri Liebsch in seiner jetzt erschienenen Dissertation "Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik" (Betreuer: Prof. Dr. Gunter Scholtz, Prof. Dr. Gerhard Plumpe) auf den Prüfstand. Ergebnis seiner kritischen Auseinandersetzung: Den vermeintlich neuzeitlichen Bildungsgedanken des 18. Jahrhunderts prägt ein "moderner Antimodernismus". Einige Annahmen der bisherigen Forschung über die Tragweite und Schlüssigkeit des humanistischen Erbes gehören infrage gestellt. Für seine Arbeit, die von der Ruhr-Universität Bochum auch mit dem Preis an Studierende 2000 ausgezeichnet worden ist, bedient sich Liebsch einer Kombination aus Systemtheorie, Diskursanalyse und Begriffsgeschichte.
Bildung als humanistischer Leitbegriff
Ausgangspunkt seiner Dissertation ist die unbestrittene Karriere des Bildungsbegriffs in der deutschen Geistesgeschichte. Die bisherige Forschung stellt einhellig in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Entstehung eines neuen Verständnisses von Bildung fest, das bis heute seine Attraktivität nicht eingebüßt hat. "Bildung" bezeichnet einen geistigen oder seelischen Prozess, dessen Ziel ein totales, harmonisches Individuum ist und eben kein einseitiger Spezialist. Dieser anvisierte Zustand heißt wiederum seinerseits "Bildung". In diesem umfassenden Sinn gilt "Bildung" in der Forschung noch in jüngerer Zeit als "Leitbegriff unserer Neuzeit" (Koselleck), "größter Gedanke des 18. Jahrhunderts" und "humanistischer Leitbegriff" (Gadamer).
Defizite der bisherigen Forschung
Liebsch prüft die Entstehung dieses Verständnisses jedoch genauer als bisher üblich. Er stellt fest, dass die Forschung zur Bildung bislang trotz der Anbindung an historische und hermeneutische Disziplinen eher vereinfachend verfahren und geschichtsblind gewesen ist. Denn auch und gerade im 18. Jahrhundert konnte "Bildung" noch etwas völlig anderes sein: Neben dem neuen, geistig-seelischen Sinn des Begriffs findet sich nicht weniger häufig eine ältere, gewissermaßen körperliche Bedeutung. "Bildung" meint hier z. B. die Form oder Formung des menschlichen Körpers, des Gesichts oder auch von Plastiken. Aus diesem Befund hat die bisherige Forschung jedoch noch kein Kapital geschlagen. Sie hat die ältere, körperliche Bedeutung zugunsten der geistig-seelischen verdrängt und vergessen. Darin sieht Liebsch mehr als nur einen Bruch mit den gängigen methodischen Verfahren. Er weist nach, dass die beiden Bedeutungen nicht nur zufällig in derselben Zeit und denselben Texten auftauchen, sondern dass sie überdies in einem systematischen Zusammenhang stehen - womit die Resultate der bisherigen Forschung in einer Reihe von Punkten zu korrigieren sind.
Das Paradox der Bildung
Liebsch nutzt für seine Untersuchung Ästhetiken, aber auch Schriften zur Anthropologie, Pädagogik und Geschichte aus dem ästhetischen Diskurs der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ihre Verfasser sind kanonische Autoren wie Winckelmann, Herder, Schiller und Humboldt. Ausgerechnet diese Texte, die bisher als zentral für die Entstehung des neuen Verständnisses von Bildung galten, weisen im Kern stets die gleiche Argumentationsfigur auf: Das moderne Individuum soll seine geistig-seelische Bildung durch die Auseinandersetzung mit der körperlichen Bildung der antiken griechischen Plastik - oder mit einer Kunst, die deren normativen Vorgaben verpflichtet ist - gewinnen. Dieser systematische Zusammenhang zwischen der neueren und älteren Bedeutung von Bildung lässt massiven Zweifel an der "Neuzeitlichkeit" des "größten Gedankens des 18. Jahrhunderts" aufkommen.
Der gesellschaftliche Kontext
In einem zweiten Schritt beleuchtet Liebsch parallel auch die gesellschaftstheoretischen Implikationen von Bildung. Zum einen stellt er fest, dass der fragliche ästhetische Diskurs einer Zeit entstammt, die fachübergreifend als Umbruch oder Sattelzeit zwischen der alteuropäischen Gesellschaft in Antike und Mittelalter und der modernen, funktional ausdifferenzierten beschrieben worden ist. Liebsch zeigt, dass die Autoren des Diskurses ein klares Bewusstsein von den Unterschieden zwischen Antike und Moderne und somit auch von antiker und moderner Kunst besitzen. Damit bestätigt sich noch einmal die Einsicht, dass im 18. Jahrhundert die Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik ganz entscheidend zur Ausbildung des historischen Sinnes beigetragen hat.
Moderne therapieren mit Hilfe der Antike
Zweitens stellt sich vor diesem Hintergrund die geistig-seelische Bildung als ein modernes Projekt heraus. Denn erst vor dem Hintergrund der Moderne und der Zunahme von Arbeitsteilung, Spezialisierung und der dadurch verursachten Defizite wird die nachdrückliche Forderung nach einem totalen und harmonischen Individuum überhaupt plausibel. Liebsch stellt im ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts einen "modernen Antimodernismus" fest: Die Autoren versuchen der Diagnose der Moderne mit einer Therapie zu begegnen, die auf die Antike zurückgreift. Problematisch ist das vor allem, weil die Autoren dieser Zeit genau wussten, dass eine Neuauflage der antiken Kunstproduktion unmöglich ist und eine moderne Rezeption der antiken Plastik problematisch bleibt. Die Plastik ist in der Moderne nicht mehr Bestandteil einer totalen Praxis, die noch im Selbstlauf wie in der Antike ästhetische, moralische, religiöse, sportliche und politische Aspekte zu umgreifen vermag.
Gescheitertes Projekt mit Folgen
Bei seiner Einschätzung des Projekts ästhetischer Bildung folgert Liebsch zweierlei: Zum einen ist es hinsichtlich seiner argumentativen Konstruktion gescheitert, weil der moderne Antimodernismus in einen unaufhebbaren Widerspruch führt. Zum anderen sind die Folgen des Projekts für die moderne Kunst nicht zu unterschätzen. Denn durch seine Orientierung an der antiken Plastik negiert es all jene Eigenschaften, die dem ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts zufolge typisch für die moderne Kunst sind: Originalität, Neuheit, Individualität, Distanz zu Moral und alteuropäischem Regelwissen. Das moderne Verständnis von Bildung beinhaltet also nicht nur ein unaufhebbares Paradox, sondern zielt mit seinem theoretischen Willen zur Bildung auch an den praktischen Potenzialen moderner Kunst vorbei.
Titelaufnahme
Dimitri Liebsch: Die Geburt der ästhetischen Bildung aus dem Körper der antiken Plastik. Zur Bildungssemantik im ästhetischen Diskurs zwischen 1750 und 1800 (Archiv für Begriffsgeschichte, Sonderheft Jg. 2001), Felix Meiner Verlag Hamburg 2001, ISBN 3-7873-1589-6
Weitere Informationen
Dr. Dimitri Liebsch, Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum, Tel. 0234/32-22723 (privat: 0234/511372), Fax: 0234/32-14088, Email: dimitri.liebsch@ruhr-uni-bochum.de
Criteria of this press release:
History / archaeology, Philosophy / ethics, Religion
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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