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12/12/2001 00:00

Innenansichten von Bibliotheken

Dr. Christian Jung Stabsreferat Kommunikation
VolkswagenStiftung

    Abschlusspräsentation der "Sammlung Deutscher Drucke" und des "Handbuchs der historischen Buchbestände"

    Deutschland verfügt nicht über die eine, alles um- und erfassende Nationalbibliothek wie etwa England, Frankreich oder Russland. Ein Pendant zur British Library in London oder zur Bibliothèque nationale in Paris gab es nie - und wird es wohl auch nicht geben.

    Es liegt auf der Hand, was das für jede historische Forschung bedeutet, zumindest lange Zeit bedeutet hat. Diesem Manko wurde jedoch inzwischen abgeholfen: durch zwei Großunternehmungen, beide von der VolkswagenStiftung gefördert und beide fußend auf den Empfehlungen des Münsteraner Anglisten und Buchwissenschaftlers Professor Bernhard Fabian. Doch der Reihe nach.

    In einer Studie - verfasst im Laufe eines Akademie-Stipendiums der Stiftung und 1983 veröffentlicht unter dem programmatischen Titel "Buch, Bibliothek und geisteswissenschaftliche Forschung" - vertrat Fabian die Idee einer dezentralen, "verteilten Nationalbibliothek". An verschiedenen Stellen im Bundesgebiet sollten die Druckwerke chronologisch segmentiert gesammelt werden. Diese Idee wird 1989 mit der Gründung der "Arbeitsgemeinschaft Sammlung Deutscher Drucke" Wirklichkeit. Insgesamt 25 Millionen Mark Startförderung hat die VolkswagenStiftung diesem Vorhaben zur Verfügung gestellt, das jetzt in Eigeninitiative der sechs beteiligten Bibliotheken in München, Wolfenbüttel, Göttingen, Frankfurt am Main, Berlin und Leipzig fortgeführt wird. Jede der genannten Bibliotheken übernahm und verfolgt nunmehr die Betreuung einer bestimmten Epoche zwischen 1450 und 1912, nutzt also die Mittel, ihre jeweils reichhaltigen Bestände zu den einzelnen Sammelgebieten für den festgelegten Zeitraum zu vervollständigen. So leitet den Wissenschaftler das Erscheinungsjahr von Büchners Komödie "Leonce und Lena" auf die Internetseite der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt/Main, die die Bucherscheinungen von 1801 bis 1870 sammelt.

    Abhilfe auf anderem Gebiet schafft das "Handbuch der historischen Buchbestände" - erstellt unter der Leitung von Professor Fabian selbst und von der Stiftung mit rund elf Millionen Mark gefördert. In 47 Bänden erschließt es das deutschsprachige Schrifttum vom Beginn des Buchdrucks bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts in einer Vielzahl von Staaten und Regionen. Es ist allerdings kein Katalog, dessen Inventarabsicht sich auf einzelne Bücher richtet, sondern ein Wegweiser zu den Bestandskomplexen in den einzelnen Bibliotheken. Das Handbuch sagt dem Benutzer also, wo er Bestände bestimmter Sachgebiete in welcher Größenordnung findet. Als weit reichendes Inventar listet es dabei neben Büchern auch Zeitschriften, Zeitungen, Musikdrucke, Karten und "beiläufiges" Schrifttum; nicht jedoch Handschriften. Mit seiner regionalen Gliederung passt sich das Handbuch der starken Streuung älterer Buchbestände an und lässt zugleich die kulturellen Physiognomien der einzelnen Regionen sichtbar werden - auch als Anreiz für den Forscher und dessen künftige Forschungsabsichten.

    So wird der interessierte Wissenschaftler bei dem beispielhaft gewählten Stichwort "Büchner" - 5 HES Darmstadt 1 HLB 5.4 - über das Register für die Bestände in Deutschland in die Hessische Landes- und Hochschulbibliothek geleitet, die auch das Büchner-Archiv beherbergt. Das "Handbuch" erläutert dann aber nicht nur die Bestandsgeschichte der Hessischen Landes- und Hochschulbibliothek, entstanden aus den erstmals im Jahre 1375 erwähnten Büchern des Darmstädter Schlosses, sondern gibt auch eine Beschreibung der gesamten Bestände, der vorhandenen Kataloge, Archivalien und Veröffentlichungen zu den Beständen. Und es vergisst auch nicht, dem Büchersuchenden Hinweise für die Anreise zu geben sowie die Öffnungszeiten der Bibliothek mitzuteilen. Eine Art "Bücherdetektor" ist entstanden. Band 5 zu Hessen ist hier nicht zufällig genannt, wurde er doch 1992 als erster des "Handbuchs" veröffentlicht.

    Inzwischen, fast ein Jahrzehnt später und mit einer Abschlussfeier Ende 2001 gebührend gefeiert, liegt nun auch der letzte der insgesamt 47 Bände vor. Die Buchbestände vom Beginn des Buchdrucks bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts werden darin, wie schon erwähnt, regional unterteilt erschlossen: dabei im "Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland" nach Bundesländern (Band 1 bis 27, erschienen von 1992 bis 2000), im "Handbuch der historischen Buchbestände in Österreich" nach Bibliotheken in Wien oder außerhalb (Band 1 bis 4, erschienen zwischen 1994 und 1997), im "Handbuch deutscher historischer Buchbestände in Europa" nach den einzelnen Ländern (Band 1 bis 12, veröffentlicht von 1997 bis 2001).

    Hier, im europäischen Handbuch, liegt ein gewisser Schwerpunkt auf den Ländern und deren Bibliotheken, die auf Grund der Historie und der kulturellen Verflechtungen über bedeutende deutsche Buchbestände verfügen und die im halben Jahrhundert der Teilung Europas den westlichen Wissenschaftlern kaum zugänglich waren. Die 400 000 Bücher und Schriften deutscher Provenienz in der Russischen Nationalbibliothek in Sankt Petersburg sind da ebenso zu nennen wie etwa die Bestände in den rund 150 Schlossbibliotheken der Tschechischen Republik, denen sogar ein eigener Band gewidmet ist. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Bibliotheken der Adeligen in der "Tschechoslowakei" zwar konfisziert, nicht jedoch wie andernorts zerschlagen und als Kristallisationspunkte der Kultur zerstört. Dass diese Struktur erhalten blieb, muss heute als Dokument einer sonst nicht mehr existierenden Buchkultur verstanden werden.

    Insgesamt werden im "Handbuch" 1500 Bibliotheken in Deutschland mit ihren Buchbeständen kartografiert, 300 sind es in Österreich, über 600 in den Europa-Bänden. Eine kulturelle Großtat. Umso erstaunlicher erscheint es, dass die Organisation dieses Mammutunternehmens letztlich in den Händen eines einzelnen Wissenschaftlers lag. Der Anglist Fabian, von 1962 bis zu seiner Emeritierung 1995 Direktor des Englischen Seminars in Münster, hatte selbst bei Recherchen über den englischen Kultureinfluss auf das Deutschland des 18. Jahrhunderts am eigenen Leibe erfahren müssen, dass die Frage nach Literatur aus einem bestimmten Sachgebiet zu einer Epoche in den meisten Bibliotheken schiere Ratlosigkeit hervorruft. Mit dem Handbuch wollte er - wie er einmal sagte - "Innenansichten von Bibliotheken" liefern. Es ist ihm gelungen.

    Natürlich lässt sich solch ein Großunternehmen nicht ganz allein bewältigen. In konzentrischen Kreisen gruppierten sich die Mitarbeiter des Mammutprojekts um eine steuernde Mitte. Dort, in der Zentralredaktion des Handbuchs in Münster, konnte Bernhard Fabian auf Dr. Karen Kloth bauen, die das Projekt die ganzen langen Jahre hindurch mitbetreute. Ihre Unterstützung bezeichnet er selbst als eine, wenn nicht gar die wesentliche Voraussetzung für die Schnelligkeit, mit der das Handbuch wuchs. Im nächsten Kreis dann finden sich die Leiter der verschiedenen regionalen und nationalen Redaktionen, wobei seinerzeit Professorin Friedhilde Krause als Generaldirektorin der Deutschen Staatsbibliothek im damaligen Ostberlin eine bedeutende Vermittlerrolle für die DDR sowie für die Länder Mittel- und Osteuropas zukam. Den äußersten Ring um Fabian bildeten die mehr als 1600 "Beiträger", die anhand einer Liste von einzuholenden Angaben "ihre" Bibliothek erfassten. Sie sind am Ende jedes Bandes namentlich aufgeführt.

    Die Retrospektive verdeutlicht noch einmal die Dimension: im Jahr 1983 entstanden Idee und Konzept, 1984 erfolgte die erste Bewilligung durch die VolkswagenStiftung, 1992 erschien der erste und im Jahr 2001 der letzte Band - das "Handbuch der historischen Buchbestände" hat selbst eine Geschichte. Auch eine bewegte, wurde doch zum Beispiel die Erfassung der Buchbestände in den neuen Bundesländern noch zu DDR-Zeiten geplant. Als Gegenüber fungierte das Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen der DDR, das dem Vorhaben zwei Monate vor dem Fall der Mauer offiziell zustimmte. Mit der Wende dann wurde das Bibliothekswesen in den neuen Bundesländern neu strukturiert - und das Unternehmen war plötzlich wieder von innen heraus gefährdet. Doch auch diese Klippe konnte mit vereinten Kräften umschifft werden. Und noch einmal schien die Geschichte das Vorhaben in Teilen zu gefährden: Mitten in die Erarbeitung der Bände für die Tschechoslowakei brach dieser künstlich geschaffene Staat auseinander, und es erforderte sensible Verhandlungen mit der tschechischen wie der slowakischen Seite, damit die Arbeiten doch noch beendet werden konnten. Mit einer Präsentation der Bände in beiden Staaten im vergangenen Jahr im Beisein politischer und wissenschaftlicher Prominenz fand auch dieser Teil seinen erfolgreichen Abschluss.

    Wie in Tschechien und der Slowakei wurde nahezu jeder der 47 Bände in seinem Land oder Bundesland offiziell der Öffentlichkeit übergeben, eine große Abschlussveranstaltung fand Ende vergangenen Jahres in Hannover statt. Das war der Schlusspunkt einer fast zwei Jahrzehnte andauernden Förderung durch die VolkswagenStiftung. Davor stand jede Menge Papier. Alles in allem wuchsen in den vergangenen 18 Jahren die Meter an Aktenordnern, gefüllt mit Korrespondenz und Arbeitsmaterialien. Bernhard Fabian schätzt, dass etwa 15 bis 20 Ordner pro Band anfielen. Von diesen Dokumenten der eigenen Geschichte des Handbuchs werden im Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Bücherei in Leipzig nur einige Beispiele aufbewahrt, zusammen mit einem Exemplar der elektronisch gespeicherten Texte des "Handbuchs der historischen Buchbestände".

    Die kulturellen Grenzen somit, zu Beginn beschrieben, sind unbestreitbar ein Stück gewichen. Man mag sich in seinem Urteil der neuesten Ausgabe des Standardwerks "Das Bibliothekswesen der Bundesrepublik Deutschland" anschließen, das den Nutzen des Handbuchs der historischen Buchbestände wie folgt beschreibt: "Der Gewinn, den dieses 'Inventar' abwirft, (wird) langfristig sehr groß sein. Bestände und Bestandsgruppen werden als Individualitäten in der geistigen Überlieferung sichtbar, verschlungene Traditionsgänge und Verbindungslinien des intellektuellen und literarischen Austauschs erkennbar. Der große Bestandteil an älterer Literatur ... lässt den Schatz ahnen, der zur geistigen Bereicherung einer jeden Epoche immer von neuem gehoben werden kann."
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    Kontakt: Prof. Dr. Bernhard Fabian, Telefon: 0 25 01/54 92
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    Kontakt VolkswagenStiftung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Christian Jung,
    Telefon: 05 11/83 81-380, e-mail: jung@volkswagenstiftung.de


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    Criteria of this press release:
    Art / design, History / archaeology, Language / literature, Media and communication sciences, Music / theatre, Social studies
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Scientific Publications
    German


     

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