idw - Informationsdienst
Wissenschaft
Internationales Forscherteam unter Beteiligung der Universität Tübingen überprüft Datierungen europäischer Funde und erstellt ein Modell der zeitlichen Abläufe in der Altsteinzeit
Die letzten Neandertaler sind vor spätestens 39.000 Jahren ausgestorben. Zu diesem Ergebnis kommt ein internationales Forscherteam, an dem Wissenschaftler der Universität Tübingen beteiligt waren. „Das Verschwinden der Neandertaler muss früher angesetzt werden“, sagt Professor Nicholas Conard von der Abteilung Ältere Urgeschichte und Quartärökologie der Universität Tübingen. Auch für die bisherige Annahme, dass Neandertaler im Süden der Iberischen Halbinsel besonders lange überlebt hätten, ließen sich bei erneuter Prüfung keine Hinweise finden. Die Ergebnisse der Studie werden in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Nature“ veröffentlicht.
Seit vielen Jahren ist sich die Forschung einig, dass anatomisch moderne Menschen, von denen alle heute lebenden Menschen abstammen, und Neandertaler eine Zeit lang nebeneinander existierten. Doch wie viel Zeit und Möglichkeiten zur Begegnung die beiden Menschenarten hatten und wann die Neandertaler ausgestorben sind, stellt die Wissenschaft vor viele Rätsel. Dies liegt auch daran, dass die Radiokohlenstoffdatierung der archäologischen Funde bei Proben mit einem Alter um etwa 50.000 Jahre ihre verlässlichen Grenzen erreicht – ausgerechnet in dem Zeitraum, auf den es für die Klärung der Abläufe ankommt. Ein großes internationales Forscherteam hat nun von zahlreichen europäischen Fundstellen aus der Altsteinzeit Momentaufnahmen zusammengetragen, frühere Datierungen mit einer genaueren Methode überprüft und daraus ein, wenn auch lückenhaftes, Gesamtbild zusammengefügt. Die Ergebnisse der Studie sprechen geografisch wie auch zeitlich für eine mosaikartige Verteilung der letzten Neandertaler in Europa.
Im europäischen Mittelmeerraum tauchten die ersten anatomisch modernen Menschen vor 45.000 bis 43.000 Jahren auf. Offenbar verdrängten diese Einwanderer die europäischen Neandertaler aber nicht gleich überall bei ihrer Ankunft. Die Forscher gehen davon aus, dass sich die Lebenszeiten der letzten Neandertaler und der eingewanderten anatomisch modernen Menschen in Europa über einen Zeitraum von 2.600 bis 5.400 Jahren überschnitten. Die Zeit habe ausgereicht, dass Neandertaler Kenntnisse von modernen Menschen übernehmen konnten. Das Bild der Koexistenz sei komplex und ergebe ein mosaikartiges Muster.
Das Forscherteam bezog 40 archäologische Schlüsselfundstellen von Russland bis Spanien in ihre Studie ein. Die Datierung zahlreicher Funde wurde mithilfe der Beschleuniger-Massenspektrometrie nachuntersucht, die genauere Messungen zulässt als die Radiokohlenstoffdatierung. Es zeigte sich, dass mit den bisherigen Methoden und aufgrund von Verunreinigung der Proben das Alter von steinzeitlichen Überresten häufig bis zu mehrere Tausend Jahre unterschätzt worden war. „Das altsteinzeitliche Europa ist das beste Gebiet, um die Verdrängung der Neandertaler durch anatomisch moderne Menschen zu untersuchen, hier gibt es viele bereits gut untersuchte Fundstellen“, erklärt Nicholas Conard. Das Forscherteam untersuchte drei steinzeitliche Kulturformen, die sich jeweils durch ihre Steinwerkzeuge unterscheiden: das Moustérien und das in Frankreich sowie Nordspanien beschriebene Châtelperronien, die Neandertalern zugeordnet werden, sowie die Uluzzien-Kultur, die auf der italienischen Halbinsel und Südgriechenland zu beobachten war und deren Produkte dem modernen Menschen zugeschrieben werden.
Sicher ist, dass es außerhalb von Afrika einen Austausch von Genmaterial zwischen Neandertalern und anatomisch modernen Menschen gegeben hat. Noch heute finden sich einige Neandertalergene im Erbgut von Nichtafrikanern. Wann und wo außerhalb Afrikas sich die beiden Menschengruppen zusammenfanden, bevor die Neandertaler verschwanden, konnte bisher nicht näher bestimmt werden. Das Forscherteam entwickelte aus den neuen Messdaten der Beschleuniger-Massenspektrometrie ein Modell der Zeitabläufe: Danach wurde das Moustérien an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten von anderen Industrien wie zum Beispiel dem Châtelperronien beziehungsweise der Uluzzien-Kultur abgelöst. Die Forscher sind sich jedenfalls sicher, dass spätestens seit 39.000 Jahren vor heute keine Neandertaler mehr lebten.
Originalpublikation:
Tom Higham et al.: The timing and spatiotemporal patterning of Neanderthal disappearance. Nature, 21. August 2014, doi 10.1038/nature13621.
Kontakt:
Prof. Nicholas Conard Ph.D.
Universität Tübingen - Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät
Ältere Urgeschichte und Quartärökologie
Senckenberg Center for Human Evolution and Palaeoenvironment Tübingen
Telefon +49 7071 29-72416
nicholas.conard[at]uni-tuebingen.de
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars
Geosciences, History / archaeology
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).