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04/09/2003 09:54

Lateinamerika unter Globalisierungsdruck

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Politikwissenschaft

    Lateinamerika befindet sich mitten im Globalisierungsprozess. Die Hoffnung der 90er Jahre, die Staaten des Subkontinents könnten einen umfassenden politischen und ökonomischen Wandel in Gang setzen, hat sich nicht erfüllt. Anfang des 21. Jahrhunderts befindet sich Lateinamerika wieder in einer gravierenden Schulden- und Entwicklungskrise. Der Politikwissenschaftler Prof. Andreas Boeckh erforscht die Ursachen und sucht nach Lösungsansätzen.

    Tübinger Politikwissenschaftler untersucht entwicklungshemmende Muster der Politik

    In den 1990er Jahren herrschte in Lateinamerika große Aufbruchstimmung - die Schuldenkrise der 80er Jahre schien überwunden, die staatliche Steuerung wurde auf marktwirtschaftliche Strukturen umgestellt. Die ökonomischen Reformen versprachen, die Voraussetzungen für eine zukunftsfähige Integration Lateinamerikas in den Weltmarkt zu schaffen. Diese Hoffnung hat sich jedoch nicht erfüllt. Warum die Konzepte fehlgeschlagen sind, untersucht Prof. Andreas Boeckh vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen mit seiner Arbeitsgruppe vor allem in Argentinien, Peru, Brasilien und Venezuela.

    "Bezogen auf eine rund 200jährige Entwicklung ist Lateinamerika im Vergleich zu den führenden Nationen der Welt wie den USA und Europa immer weiter zurückgefallen", sagt Andreas Boeckh. Bei der kurzfristigen Entwicklung, so der Politikwissenschaftler, habe der Ansatz der 90er Jahre nicht funktioniert. In den 90er Jahren ging die Weltbank davon aus, dass die Massenarmut nicht nur eingedämmt, sondern sogar verringert werden könne, wenn die Entwicklungsländer eine konsequent marktwirtschaftliche Strukturreform durchführen. Die Entwicklung in Lateinamerika sei aber im Gegenteil ungünstig verlaufen.

    Der Politikwissenschaftler sieht mehrere Erklärungsansätze, wie es dazu kommen konnte. Strukturelle Ursachen: "Schon seit der Kolonialzeit waren die Gesellschaftsstrukturen stark polarisiert, wenige Reiche standen einer großen Zahl von armen Menschen gegenüber. Bei Versuchen im 19. Jahrhundert, den Bodenbesitz neu zu verteilen, ist es in manchen Ländern sogar zu einer stärkeren Konzentration an Landbesitz gekommen", sagt Boeckh. Weitere Erklärung ist ein missglückter Ideologietransfer: Erfolgreiche Entwicklungsmodelle aus Europa und den USA hätten sich nicht einfach auf die lateinamerikanische Realität kopieren lassen. "Aber auch mit Bewegungen, sich bewusst von den Entwicklungen in Europa abzusetzen, eine eigene Identität zu entwickeln, waren nicht erfolgreich", so der Forscher. Er untersucht jedoch vor allem spezifische politische Prozessmuster, die das Scheitern der lateinamerikanischen Staaten erklären können.

    Bei der Liberalisierung des Marktes würde vom Staat verlangt, für Regeln und bestimmte Rahmenbedingungen zu sorgen. "Die Hoffnung, dass der Markt den Staat dabei unter Druck setzt, hat sich nicht überall erfüllt", sagt Boeckh. Die "informelle Politik", die auf schwierig zu durchschauenden Netzwerken von Vetternwirtschaft und Korruption beruht, und die klientelistischen Strukturen haben die Reformversuche weitgehend überlebt. "Die Klientel zu bedienen, ist teuer und hochgradig ineffizient. Die ärmsten Staaten leisten sich die teuersten Parlamente. In manchen brasilianischen und argentinischen Bundesstaaten werden bis zu 40 Prozent des Staatshaushaltes für die Abgeordnetendiäten aufgewandt, die damit ihre Klientelnetze bedienen", macht Boeckh die Dimensionen deutlich. Klientelistische Strukturen hätten auch zur Folge, dass Wichtiges an den eigentlich zuständigen Stellen vorbeigehe, die Vorgänge seien nicht transparent. Dass sich der Staat nicht an die selbst gesetzten Spielregeln halte, führe zu einer Geringschätzung staatlicher Institutionen. Als Beispiel führt Boeckh korrupte Justizbeamte an: "Manch ein Gefangener saß in Venezuela schon bis zu 12 Jahre in Untersuchungshaft, weil seine Angehörigen nicht bezahlen konnten. Ohne Zahlungen wird keine einzige Akte bewegt." Eine Justizreform könne Abhilfe schaffen, doch Korruption und Vetternwirtschaft hielten sich hartnäckig und führten teilweise sogar zu Regressionen, erläutert Boeckh. "Die besten institutionellen Reformen nützen nichts, wenn die politischen Eliten im Interesse des Machterhalts die demokratischen Institutionen beschädigen."

    Als entwicklungshemmend sieht Boeckh auch den Neopopulismus an, der sich in Lateinamerika zunehmend ausbreitet. Neben der Beschwörung einer geradezu mystischen Einheit von Führer und Volk und einer anti-oligarchischen Erlösungsrhetorik zeichneten sich neopopulistische Regime durch eine Missachtung von Institutionen und politischen Kontrollmechanismen aus. "Es gibt dann aber kaum noch Institutionen, die den politischen Führer kontrollieren, die Regelverlässlichkeit im Staat sinkt und die Krise verschärft sich", sagt Boeckh. Wenn das Land abgewirtschaftet hat, könne dieses Konzept politisch aufgehen. "In der Folge verschwindet die Komplexität der Entscheidungsstrukturen, und politische Organisationen wie die Gewerkschaften oder die Parteien werden obsolet, wie zum Beispiel in Venezuela und Peru", so der Forscher. Begünstigt werde diese Entwicklung durch eine zunehmende Atomisierung der Gesellschaft, bei der informelle Arbeitsverhältnisse oft überwiegen. Für die dürftige Entwicklungsbilanz seit den 90er Jahren, die sich in einigen Ländern als krasser Wohlfahrtsverlust darstelle, werde oft die alte politische Kaste verantwortlich gemacht.

    Als Ausnahmen dieser negativen Entwicklung in Lateinamerika sieht der Forscher, der sich bei seinen Untersuchungen so oft wie möglich vor Ort, im ständigen Kontakt mit Kollegen in der Region und im Internet informiert, Chile und Costa Rica. Auch Brasilien habe beachtliche Erfolge bei der Staatsreform aufzuweisen. Doch im restlichen Lateinamerika herrschten noch immer die unterkomplexen Entscheidungsstrukturen vor, die keine adäquaten Reaktionen auf den Globalisierungsdruck erlauben. "Lateinamerika gerät immer stärker unter Konkurrenz- und Wettbewerbsdruck. Die notwendige Abstimmung mit gesellschaftlichen Akteuren funktioniert wegen der mangelhaften Strukturen nicht. Man benötigt ein institutionelles Netzwerk, um schnell reagieren zu können. Und genau das fehlt", erläutert Boeckh die Situation.

    Doch welche Ansätze sieht der Politikwissenschaftler, um aus der Krise herauszukommen? Erst einmal fordert Boeckh eine Justizreform, um die Korruption einzudämmen und Rechtsstaatlichkeit sowie Regelverlässlichkeit herzustellen. "Das Personal muss besser bezahlt und professionalisiert werden. Vernünftig bezahlte Polizisten neigen nicht zur Wegelagerei", sagt er. Nur mit klaren Laufbahnregeln könne der politische Stellenschacher eingedämmt werden. Gerade bei der Steuerverwaltung liege vieles im Argen. Vor allem Brasilien müsse dringend seinen aufgeblähten Staatsapparat abbauen. Dort gebe es gut bezahlte Staatsangestellte, die keinerlei Aufgaben haben, die so genannten Fantasmas. Das Problem in Lateinamerika sei aber, so Boeckh, dass auf zentraler Ebene zwar Reformbemühungen zu erkennen seien, diese aber auf dezentraler Ebene häufig nicht umgesetzt beziehungsweise unterlaufen würden. "Erst wenn das Land dabei ist abzustürzen, reagiert man." Bei den Reformbemühungen sei die Zeit ein wichtiger Faktor, Reformen gingen nur sehr langsam voran. "Weitere Suchphasen kann man sich in Lateinamerika nicht leisten. Das scheint man nicht überall begriffen zu haben." (6870 Zeichen)

    Nähere Informationen:

    Prof. Andreas Boeckh
    Universität Tübingen
    Institut für Politikwissenschaft
    Melanchthonstrasse 36
    72074 Tübingen
    Tel.: 0 70 71/2 97 59 07 oder 0 70 71/2 97 68 56
    Tel. privat 0 70 71/2 75 43
    E-Mail: andreas.boeckh@uni-tuebingen.de

    Der Pressedienst im Internet: http://www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/pd/pd.html


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    Criteria of this press release:
    Law, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research results
    German


     

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