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Die deutsche Energiewende ist ein Prozess mit vielen Facetten: Neue technologische Entwicklungen stehen neben normativen Entscheidungen der Politik; die Diversifizierung der beteiligten Akteure durch neue kommunale Versorger oder dezentrale Erzeuger geht einher mit neuen energiepolitischen Verteilungskonflikten; und zentrale Steuerungsansprüche des Bundes reiben sich mit der räumlichen Planung auf Landesebene und in den Kommunen. Sozialwissenschaftler des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) haben analysiert, wie sich die Machtverhältnisse zwischen den Akteuren verändern. Die Forschung wird im neuen Buch „Conceptualizing Germany’s Energy Transition“ dargestellt.
Die Energiewende lässt sich als ein komplexer, gesamtgesellschaftlicher Wandlungsprozess verstehen, der einer sozialwissenschaftlich fundierten, umfassenden Analyseperspektive bedarf. „Diese Perspektive einzunehmen bedeutet, den Prozess auch durch die Brille etablierter politik- und sozialwissenschaftlicher Theorien zu betrachten“, sagt Dr. Ludger Gailing, wissenschaftlicher Mitarbeiter des IRS. „Wir erforschen daher das Aufkommen unterschiedlicher Governance-Formen, die räumliche Rekonfiguration der Energieerzeugung, -versorgung und -nutzung sowie Veränderungen der Akteurs- und Institutionenlandschaft.“ Diese Themen standen auf der Agenda des dreijährigen Forschungsprojekts „Gemeinschaftsgutaspekte und räumliche Dimensionen der Energiewende: Zwischen Materialität und Macht“, welches Ende 2014 abgeschlossen wurde.
„Wir stießen bei der Analyse der Energiewende immer wieder auf den Umstand, dass es im Zuge des Wandels zu erheblichen Neudefinitionen von Machtverhältnissen im Energiebereich kommt“, erläutert Gailing, der das Projekt geleitet hat. Ein Ziel des Projekts war es daher, sozialwissenschaftliche Machttheorien und -konzepte auf ihre Passfähigkeit zur raumbezogenen Energiewende-Forschung hin zu untersuchen und deren Aussagefähigkeit anhand von Falldiskussionen und Fokusgruppensitzungen mit der gesellschaftlichen Realität der Energiewende zu konfrontieren. „Diese Realität sieht vielerorts so aus, dass die Macht über bestimmte Ressourcen, etwa verfügbaren Grund und Boden, einsatzbereites Kapital oder politisch-planerische Entscheidungskompetenz, im Prozess stark umkämpft ist“, so Gailing. Dabei sind Machtasymmetrien entstanden, etwa durch die große Finanzkraft überregionaler Investoren gegenüber den lokalen Akteuren. Auch in Bezug auf die Entscheidungskompetenz treten ungleiche Machtverhältnisse zutage, wenn beispielsweise in Regionalversammlungen, in denen über die Ausweisung von Windeignungsflächen entschieden wird, betroffene kleine Gemeinden nicht vertreten sind. Die Analysen des Leitprojekts verdeutlichen die machtvolle Auseinandersetzung um Ressourcen und mögliche Profitbeteiligungen von der individuellen Akteursebene bis zur Politik auf Bundesebene.
Macht in einem Prozess wie der Energiewende zu untersuchen bedeutet aber mehr, als nur Antworten auf die Fragen zu finden, wer mit welchen Ressourcen Entscheidungshoheit hat und finanziell profitiert. Das Leitprojekt-Team beschäftigte sich daher auch mit nicht-akteursbezogenen, produktiven Machtkonzepten. Macht wirkt hier – zum Beispiel im Sinne der Gouvernementalitätsforschung – nicht einschränkend, sondern ermöglicht gesellschaftliche Prozesse. „Es ist zu beobachten, dass dem Gesamtprozess der Energiewende als Zusammenspiel aller Akteure in verschiedenen räumlichen Kontexten eine eigenständige, produktive Gestaltungsmacht innewohnt“, erläutert Gailing. „Dies bedeutet, dass die Dynamik des Prozesses einen erheblichen Einfluss auf konkrete Einzelentscheidungen und -handlungen ausübt.“ Beispielsweise seien Selbstläufereffekte zu beobachten, wenn sich die Energiewende nicht mehr nur als bundespolitisches zentrales Projekt zeigt, sondern als vielfältiger sozialer Wandlungsprozess vor Ort. Menschen werden zu aktiven Subjekten der Energiewende, die als „Prosumer“ nicht mehr nur Energie konsumieren, sondern sie auch selbst produzieren, indem sie gemeinschaftliche Lösungen zur dezentralen Energieerzeugung entwickeln (z. B. Bürger-Windparks) oder wenn sie Widerstand gegen Projekte der Energiewende organisieren. In diesem Zusammenhang fällt auch eine weitere objektbezogene Machtkomponente auf: die sogenannte „thing power“. Objektbezogene Macht, wie sie zum Beispiel in der Forschung zu „sozio-technischen Assemblages“ von Bedeutung ist, zeigt sich an der Wirkung physischer Präsenz von Objekten und Artefakten auf soziales Handeln und Institutionen: Der Bau von Windrädern kann die Gründung von Vereinen gegen Windkraft auslösen, die energetische Sanierung von Gebäuden kann städtische Gentrifizierungsdiskurse und -prozesse bedingen usw.
Gailing, L.; Moss, T. (2016): Conceptualizing Germany’s Energy Transition: Institutions, Materiality, Power, Space. 147 S., Palgrave MacMillan UK, DOI 10.1057/978-1-137-50593-4.
Kontakt:
Dr. Ludger Gailing
Stellvertretender Leiter der Forschungsabteilung „Institutionenwandel und regionale Gemeinschaftsgüter“
Tel: 03362/793-252
Mail: ludger.gailing@irs-net.de
Die Idylle kann trügen: Hinter einem Windradprojekt im ländlichen Raum stehen oft Machtkämpfe um den ...
Stephen Meese / istockphoto.com
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Criteria of this press release:
Journalists
Economics / business administration, Energy, Politics, Social studies
transregional, national
Research projects, Research results
German
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