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Wissenschaft
Neue politikwissenschaftliche Erkenntnisse über die Frankfurter Nationalversammlung
Die deutsche Demokratie reicht zurück bis ins Jahr 1848. Am 18. Mai tagte in Frankfurt das erste bundesdeutsche Parlament zum ersten Mal. Lange war es als chaotisches Professorenparlament verschrien, die von ihm erarbeitete Verfassung trat nie in Kraft. Doch aktuelle Forschungsergebnisse der Universität Bamberg zeigen: Die ersten deutschlandweit gewählten Abgeordneten arbeiteten höchst professionell.
Um herauszufinden, ob die Arbeitsweise der Frankfurter Nationalversammlung der Arbeitsweise heutiger Parlamente ähnelt, analysierten Dr. Ulrich Sieberer, Professor für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Bamberg, und sein Kollege Dr. Michael Herrmann von der Universität Konstanz die Ergebnisse aller 299 namentlichen Abstimmungen in der Frankfurter Nationalversammlung. Ein außergewöhnliches Projekt, denn nur selten widmen sich Politikwissenschaftler historischen Themen – und noch seltener tun sie dies mit modernen empirischen Methoden. Die beiden fanden heraus: Obwohl fast allen Parlamentariern, dazu zählten neben führenden Staatsrechts-Professoren etwa auch der Sprachwissenschaftler und Märchensammler Jacob Grimm, Erfahrungen in der politischen Praxis fehlten, unterschied sich ihre parlamentarische Arbeit kaum von der Arbeit heutiger Abgeordneter. „Innerhalb von sechs Wochen etablierten die Abgeordneten schon Fraktionen“, sagt Ulrich Sieberer. „Dabei gab es damals noch gar keine politischen Parteien. Ihnen wurde einfach sehr schnell klar, dass man sich in einem Parlament zusammenschließen muss, wenn man etwas erreichen will.“
Zudem installierten die Parlamentarier eine provisorische Zentralregierung, die vom Vertrauen des Parlaments abhängig war. Dies zeigte sich etwa bei der Auseinandersetzung um den Waffenstillstand von Malmö zwischen Dänemark und den deutschen Truppen unter der Führung Preußens. Das Parlament lehnte das Abkommen mehrheitlich ab, woraufhin das erste Kabinett zurücktrat, das sich für den Waffenstillstand ausgesprochen hatte. „Das Parlament setzte so faktisch eine parlamentarische Regierungsweise durch“, sagt Ulrich Sieberer. „Bis heute gehört es zum Wesen unserer Demokratie, dass die Regierung das Vertrauen des Parlamentes braucht.“
Mithilfe der Basic Space Theorie untersuchten die Wissenschaftler zudem, nach welchen Mustern die Abgeordneten ihre Stimme abgaben. Diese Theorie des politischen Raumes geht davon aus, dass politische Konflikte in jeder Gesellschaft entlang weniger Konfliktlinien ausgetragen werden. In der Frankfurter Nationalversammlung haben Ulrich Sieberer und Michael Herrmann mit ihren statistischen Analysen zwei Konfliktlinien gefunden: Der eine Konflikt dreht sich um die Frage, wer künftig herrschen soll – ein Monarch oder das Volk. Der andere entzündet sich an dem Streitpunkt, ob für die Einigung Deutschlands die groß- oder die kleindeutsche Lösung verfolgt werden soll, ob Österreich also künftig zu Deutschland gehören soll oder nicht. Die beiden Politikwissenschaftler können mithilfe statistischer Berechnungen zielsicher vorhersagen, wie ein einzelner Abgeordneter, der beispielsweise ein Anhänger der großdeutschen Lösung ist, in einer tagespolitischen Frage etwa zur Zollpolitik oder zum Jagdwesen abstimmen wird. Aus den Grundkonflikten der Nationalversammlung lassen sich also so etwas wie politische Programme ableiten. „Die Abgeordneten wussten ganz genau, wie sich ihre Weltanschauung in konkrete Politik übersetzen lässt“, sagt Sieberer. „Diese Transferleistung ist vor allem angesichts der fehlenden politischen Erfahrung wirklich erstaunlich.“
Was 1848 geschah, wirkt also bis heute fort. So sprachen sich die Abgeordneten am Ende für die kleindeutsche Lösung aus, schafften für den föderalen Bundesstaat eine zweite Kammer, die unserem heutigen Bundesrat sehr ähnlich ist, und entwickelten Grundelemente eines parlamentarischen Regierungssystems, die bis heute Bestand haben, auch wenn sich diese aufgrund der weiteren historischen Entwicklung des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts erst in der Bundesrepublik dauerhaft durchsetzten.
Publikation:
Michael Herrmann und Ulrich Sieberer. 2018. The basic space of a revolutionary parliament: Scaling the Frankfurt Assembly of 1848/49, Party Politics, Online First, doi: 10.1177/1354068817749778.
Weitere Informationen:
www.uni-bamberg.de/emppol/forschung/laufende-forschungsprojekte
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Prof. Dr. Ulrich Sieberer
Inhaber der Professur für Empirische Politikwissenschaft an der Universität Bamberg
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ulrich.sieberer@uni-bamberg.de
Medienkontakt:
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Pressereferentin/Leitung Pressestelle
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Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils
History / archaeology, Politics, Social studies
transregional, national
Research results, Scientific Publications
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