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10/24/2003 13:06

Urmütter der Steinzeit - Bilder weiblicher Schöpfungskraft

Michael Seifert Hochschulkommunikation
Eberhard Karls Universität Tübingen

    Skulpturen- und Gemälde-Ausstellung im Schloss vom 24.10.2003 bis 25.2.2004

    Frau - Mutter - Ahnin - Göttin: Metaphern dieser Lebenskette zeigen die steinzeitlichen Frauenfiguren der Sammlerin Ruth Hecker und die abstrakten Bildwerke der Malerin Judith Hecker. Sie werden vom 24.10.2003 bis zum 25.2.2004 im Museum Schloss Hohentübingen gezeigt. Geballte schöpferische Kraft, körperliche wie spirituelle Energie und Fülle des Lebens sprechen aus den großformatigen, archaischen Gemälden wie aus den über 90 Repliken, die alt- und jungsteinzeitliche Frauenstatuetten aus dem gesamten eurasischen Raum abbilden.

    In zahlreichen altsteinzeitlichen Fundstätten des eiszeitlichen Europa und Asien wurden Figuren aus Mammutelfenbein, Knochen oder gebranntem Ton gefunden, die meist üppige Frauen mit schweren, hängenden Brüsten und betonter Beckenregion darstellen. Diese kleinen, zwischen 27.000 und 14.000 Jahre alten Statuetten müssen eine symbolische Bedeutung besessen haben, denn es sind ganz offensichtlich keine "banalen" Abbildungen damaliger Frauen. In ihnen findet vielmehr das Bewusstsein der Menschen von Leben und Tod, von Werden und Vergehen seinen Ausdruck. Die Frau mit ihrer Fähigkeit, Leben hervorzubringen, war offenbar das Abbild des Leben spendenden Prinzips der Natur, der schöpferischen Kräfte des Lebens. Ihre überquellende Fülle und Fruchtbarkeit wird in der Betonung des oft schwanger dargestellten Leibes sichtbar.

    Die Präsentation der über 90 alt- und jungsteinzeitlichen Frauenfiguren wird auf sinnlicher Ebene durch großformatige archaische Gemälde der Künstlerin Judith Hecker ergänzt. Sie sind eine abstrakte Umsetzung von "Fülle, Reife, Fruchtbarkeit, Erdenhaftigkeit, Sexualität und Gebären", d.h. von den großen Themen um Leben und Tod, die die kleinen Mutterdarstellungen verkörpern. Der Betrachter wird eingeladen, eigene Bilder, Vorstellungen und Assoziationen entstehen zu lassen. Inhaltlich geht die Ausstellung auf archäologischer und ethnologischer Basis den Wurzeln menschlicher Religiosität und den von der Wissenschaft oft noch vernachlässigten Spuren von Frauen in der Menschheitsfrühgeschichte nach. Die ausgestellten Frauenfiguren repräsentieren einen wichtigen Teil des kulturellen und spirituellen Erbes unserer Vorfahren, deren Botschaft nichts von ihrer Aktualität verloren hat.

    Über die konkrete Bedeutung der Statuetten kann man nur Vermutungen anstellen. Offensichtlich ist ihre Verwendung im alltäglichen Leben der Menschen, denn die meisten wurden in den Überresten der Behausungen gefunden, häufig in der Nähe der Feuerstelle. Möglicherweise stellten sie Ahnenmütter der Sippe dar und dienten als Schutzfiguren in Notsituationen oder bei der Geburt. Die Figuren sind klein und handlich und manche weisen Bohrungen auf, so dass man sie bei sich tragen oder als Amulett umhängen konnte. Vermutlich spielten sie auch bei Fruchtbarkeitsritualen eine Rolle und wurden mit dem Wissen um Fortpflanzung von einer Generation zur nächsten weitergegeben. Auf ihre Verwendung in Zeremonien mit symbolischem oder magischen Charakter deutet u.a. die Tatsache hin, dass einige der Figuren mit rotem Ocker, der Farbe des Blutes und des Lebens, bemalt waren. Die Verbindung zwischen dem Menstruationszyklus der Frau und dem Mondzyklus stellt sich eindrucksvoll bei der "Frau mit dem Horn" dar, einem Kalksteinrelief aus Laussel in Frankreich. Es zeigt eine schwangere Frau, die ein Rinderhorn mit 13 Einkerbungen - den 13 Mondphasen eines Jahres - in der Hand hält. Auch bei ihr sind Reste von Bemalung mit rotem Ocker zu erkennen.

    Die kleinen, vom Südwesten Frankreichs bis nach Sibirien verbreiteten Skulpturen machen deutlich, dass die Menschen um ihre Abhängigkeit von den Mächten der Natur wussten und diese für ihr Überleben zu beeinflussen versuchten. Sie gehören gleichzeitig zu den ältesten erhaltenen Zeugnissen früher religiöser Vorstellungen unserer steinzeitlichen Vorfahren. In ihnen wird die Achtung vor dem Wunder des Lebens, das sich in der Frau vollzieht, sichtbar. Dass sich in den Skulpturen der Altsteinzeit schon die Vorstellung einer Muttergottheit im heutigen Sinne äußert, ist eher unwahrscheinlich. Ganz offensichtlich manifestiert sich in diesen Figuren die magische Energie einer größeren Dimension, mit der die Jäger- und Sammlerinnen ihr Einssein zum Ausdruck brachten.

    Wahrscheinlich stehen auch die Frauendarstellungen der Jungsteinzeit, die nach dem Beginn der Sesshaftigkeit vor ca. 9.000 - 7.000 in großer Zahl auftauchen, in der Tradition der altsteinzeitlichen "Urmütter". Überall findet man sie in den Siedlungen der frühen Ackerbauern und Viehzüchter, vor allem im Vorderen Orient, dem heutigen Iran, Irak, Syrien, Jordanien und Israel, auf dem Balkan und im Mittelmeerraum. Sie wurden offenbar um die Fruchtbarkeit der Pflanzen und Tiere gebeten, aber auch als Beigaben in die Gräber der Toten gelegt. Ihre zunehmende Verehrung in Kultplätzen oder Tempeln deutet auf ihre Entwicklung zu Göttinnen in der Vorstellung der Menschen hin. Diese frühen Erd- oder Vegetationsgöttinnen sind vermutlich die Vorläuferinnen der zahlreichen weiblichen Gottheiten der Antike. Sie wurden in allen Hochkulturen Europas bis zur Verdrängung durch männliche Götter in den nun mehr und mehr hierarchisch und patriarchal geprägten Gesellschaften verehrt. Die religiösen und sozialen Veränderungen der sesshaften Bevölkerung spiegeln sich in ihrem Gottesbild.

    Frauen haben vom Beginn der Menschheitsgeschichte an die Entwicklung von Gesellschaft, Kultur und Zivilisation in entscheidender Weise beeinflusst. Durch ihre Fähigkeit, Leben hervorzubringen, sind sie von Natur aus eng mit dem Mysterium von Werden und Vergehen verbunden. Aufgrund ihrer vielfältigen Fertigkeiten und Aufgaben wie z.B. der Aufzucht der Kinder, dem Sammeln von pflanzlicher Nahrung, dem Fischfang und der Jagd auf Kleintiere, der Nahrungsverarbeitung, der Herstellung von Kleidung und Werkzeug und insbesondere der Kenntnisse des Heilens und der Geburtshilfe trugen Frauen in hohem Maße zum Überleben und Zusammenhalt der Gruppe bei. Vor allem in den noch nicht hierarchisch strukturierten Jäger und Sammlergesellschaften der Altsteinzeit ist eine geachtete, gleichwertige Stellung der Frauen anzunehmen, wie Vergleiche mit heutigen oder historischen Jäger-Sammler-Gesellschaften zeigen. Es ist denkbar, dass Frauen einen eigenen kultischen Bereich besaßen, zu dem u.a. die Frauenfiguren gehörten. Mit ihnen stellten Frauen ihre Leben spendende Kraft dar und beschworen sie. Mit der Sesshaftigkeit und der Herausbildung hierarchischer Gesellschaftsformen begannen die Achtung und der soziale Status von Frauen im Laufe der folgenden Jahrhunderte zu sinken, was sich in den religiösen Vorstellungen der Menschen ebenfalls niederschlägt.

    Die Menschen schufen mit diesen kleinen Skulpturen eine Verbindung zu größeren Kräften, denen sie sich anvertrauten. Sie sind nur die materiellen Überreste von insgesamt mehr als 25.000 Jahre währenden Traditionen, die bei aller Unterschiedlichkeit der Ausdrucksformen wohl immer eingebunden waren in Rituale und Zeremonien. Die Verehrung einer weiblich vorgestellten Schöpfungskraft in Gestalt der Frauenskulpturen stellt ein bedeutsames, nahezu weltweites Phänomen menschlicher Bewusstseins- und Kulturentwicklung dar.

    Für nähere Informationen wenden Sie sich bitte an:
    Dr. Harald Floss, Institut für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters,
    Tel.: (07071) 29-78916, E-Mail: harald.floss@uni-tuebingen.de.


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    Criteria of this press release:
    Art / design, Geosciences, History / archaeology, Music / theatre
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications
    German


     

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