idw – Informationsdienst Wissenschaft

Nachrichten, Termine, Experten

Grafik: idw-Logo
Grafik: idw-Logo

idw - Informationsdienst
Wissenschaft

Science Video Project
idw-Abo

idw-News App:

AppStore

Google Play Store



Instance:
Share on: 
01/09/2020 17:30

Alles relativ: Wie Fliegen die Welt sehen

Dr. Stefanie Merker Presse und Öffentlichkeitsarbeit
Max-Planck-Institut für Neurobiologie

    Unser Sehsystem ist extrem gut im Erkennen von Objekten unter den verschiedensten Bedingungen. Wir nehmen beispielsweise Fußgänger am Straßenrand bei strahlendem Sonnenschein ebenso wie an bewölkten Tagen wahr und können ihre Bewegungsrichtung vor einer Hauswand genauso wie vor dem Getümmel an einer Bushaltestelle erkennen. Was Auge und Gehirn scheinbar mit Leichtigkeit tun, ist eine große Herausforderung für automatisierte Systeme mit computergestützter Bildverarbeitung. Max-Planck Neurobiologen haben nun herausgefunden, wie das Fliegenhirn dieses Problem angeht: Die Nervenzellen verändern ihre Empfindlichkeit konstant in Abhängigkeit vom aktuellen Umgebungskontrast.

    Ein Fliegenhirn besitzt rund 100.000 Nervenzellen, wovon zirka 25.000 Zellen am Bewegungssehen beteiligt sind. Im Vergleich zu Wirbeltiergehirnen ist das überschaubar, doch trotzdem gibt es viele Parallelen zwischen dem Sehsystem von Fliegen und zum Beispiel Mäusen. Der Vorteil der Fliege ist jedoch, dass Neurobiologen das System Zelle für Zelle entschlüsseln können.

    Doch worauf reagieren einzelne Nervenzellen im Fliegenhirn? Um das zu untersuchen haben Forscher aus der Abteilung von Alexander Borst am Max-Planck-Institut für Neurobiologie ein Panoramakino für Fruchtfliegen gebaut. Während hier "Filme" laufen, nehmen die Neurobiologen die Aktivität der Nervenzellen im Gehirn der Fliegen auf. Dank solcher Untersuchungen ist das Bewegungssehen von Fliegen heute einer der am besten verstandenen Nervenzellschaltkreise auf zellulärer Ebene.

    Trotzdem versagten Computermodelle des Fliegen-Bewegungssehens bisher, sobald die Forscher den Modellen statt künstlicher Streifenmuster fotorealistische Bilder von natürlichen Umgebungen zeigten. Natürliche Bilder bestehen aus vielen unterschiedlichen Objekten, die in Helligkeit und Kontrast stark variieren können. Diese natürliche Komplexität stellt Computermodelle vor große Herausforderungen.

    Um besser zu verstehen, wie das Fliegenhirn es dem Tier ermöglicht sich auch in komplexen natürlichen Umgebungen zurechtzufinden, haben Michael Drews und Aljoscha Leonhardt ein Großaufgebot moderner neurobiologischer Methoden eingesetzt: Von der Elektrophysiologie über bildgebende Verfahren und Verhaltensstudien bis hin zur Modellanalyse mit Künstlicher Intelligenz.

    Informationsverarbeitung ist Teamwork

    In einem wichtigen Teil ihrer Untersuchungen ließen die Forscher unterschiedlich kontrastreiche Landschaftsbilder um die Fliegen rotieren. Dank eines angeborenen Verhaltens reagieren die Fliegen auf den optischen Fluss der Bilder mit einer Drehbewegung in entsprechender Richtung und Geschwindigkeit. „Die Fliegen haben uns durch ihr Drehverhalten daher direkt gezeigt, ob sie die Bewegung und Geschwindigkeit der Umgebungsbilder noch auflösen können“, erklärt Drews. „So konnten wir untersuchen, welche Nervenzellen wie auf die verschiedenen Kontrastverhältnisse reagieren.“

    Die Untersuchungen haben gezeigt, dass das Fliegenhirn gleich zu Beginn der Lichtreiz-Verarbeitung eine Feedbackschleife zum Kontrastvergleich eingebaut hat. Nimmt eine Nervenzelle einen hohen Kontrast wahr, vergleicht sie diesen Wert zunächst mit dem ihrer Nachbarzellen. Ist der Umgebungskontrast im Vergleich gering, antwortet die Nervenzelle stark. Ist der Umgebungskontrast dagegen größer, so schwächt die Zelle ihre Antwort ab.

    Kontrast wird im Sehsystem der Fliege also immer nur relativ zum Umgebungskontrast kodiert. „Durch diesen Mechanismus passt das Sehsystem seine Kontrastempfindlichkeit ständig an den gegebenen Umgebungskontrast an,“ erklärt Leonhardt. „So entsteht eine robuste Informationsübertragung, die unter beinahe allen Bedingungen gleich gut funktioniert.“

    Künstliche Intelligenz lernt Sehen

    Um die Funktion des neuen Schaltkreises zu überprüfen, haben die Forscher das Sehsystem im Computermodell nachgebaut – einmal mit und einmal ohne die Feedbackschleife. Tatsächlich konnten künstliche neuronale Netzwerke, die mit dem erweiterten Schaltkreis "Sehen" gelernt haben, deutlich besser reagieren, als mit dem einfachen Schaltkreis trainierte Netzwerke. Entscheidend dabei: Der erweiterte Schaltkreis kommt auch mit natürlichen Umgebungsbildern gut klar.

    Die Wissenschaftler haben somit in der Fliege einen sehr einfachen aber effektiven Algorithmus gefunden, der Bewegungen auch bei variierenden Kontrastverhältnissen berechnen kann. Ähnliche Verschaltungen werden zu Beispiel auch im Gehirn von Mäusen vermutet. So kann die Fliege uns helfen, die Gehirne anderer Tiere besser zu verstehen oder künstliche und computergestützte Sehsysteme vielleicht noch effizienter zu machen.

    KONTAKT
    Dr. Stefanie Merker
    Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
    Max-Planck-Institut für Neurobiologie
    Am Klopferspitz 18
    82152 Planegg-Martinsried
    E-Mail: merker@neuro.mpg.de
    Tel.: 089 8578 3514


    Original publication:

    Michael S. Drews*, Aljoscha Leonhardt*, Nadezhda Pirogova, Florian G. Richter, Anna Schuetzenberger, Lukas Braun, Etienne Serbe, Alexander Borst (*equal contribution)
    Dynamic signal compression for robust motion vision in flies
    Current Biology, online am 09 Januar 2019
    DOI: 0.1016/j.cub.2019.10.035


    More information:

    http://www.neuro.mpg.de/news/2020-01-borst/de - Mitteilung mit Hintergrundinformationen zum Thema.
    http://www.neuro.mpg.de/borst/de - Webseite der Abteilung von Prof. Alexander Borst


    Images

    Das Fliegenhirn verwendet einen einfachen, aber effektiven Algorithmus, um Bewegungen unter verschiedenen Kontrastbedingungen zu berechnen.
    Das Fliegenhirn verwendet einen einfachen, aber effektiven Algorithmus, um Bewegungen unter verschie ...
    (c) MPI für Neurobiologie / Kuhl
    None


    Criteria of this press release:
    Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils, all interested persons
    Biology
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Help

    Search / advanced search of the idw archives
    Combination of search terms

    You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.

    Brackets

    You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).

    Phrases

    Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.

    Selection criteria

    You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).

    If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).