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12/15/2003 14:31

EU-Expertin Kohler-Koch: Scheitern des EU-Gipfles war vorhersehbarer Bremsvorgang

Achim Fischer Abteilung Kommunikation
Universität Mannheim

    Wissenschaftlerin beklagt Demokratiedefizit des Verfassungsentwurfs und fordert, verstärkt wissenschaftlichen Sachverstand einzubinden / Wissenschaftler aus 16 Ländern suchten bei MZES-Tagung Auswege aus dem Demokratiedefizit der EU

    Die Mannheimer EU-Expertin Professor Dr. Beate Kohler-Koch bezeichnet die erfolglosen Verhandlungen beim europäischen Gipfeltreffen vom Wochenende als "voraussehbaren Bremsvorgang auf dem Weg zur europäischen Einigung". Die Wissenschaftlerin an der Universität Mannheim erinnert daran, dass eine noch so gut geschriebene Verfassung nicht die gesellschaftlichen Voraussetzungen schaffen kann, die eine Demokratie nun mal braucht, um funktionieren zu können. Das deutliche Demokratiedefizit der EU wäre auch dann nicht behoben worden, wenn die Verhandlungen in Brüssel Erfolg gehabt hätten. Sie fordert, verstärkt wissenschaftlichen Sachverstand für die Weiterentwicklung der Europäischen Union zu nutzen. Erst vor kurzem hatte sie Spitzenwissenschaftler aus ganz Europa eingeladen, die am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung (MZES) unterschiedliche Ansätze vorstellten, um dem Demokratiedefizit der EU zu begegnen.

    Der neu entflammte Streit um die EU-Verfassung offenbart, dass ein Kernproblem europäischen Regierens noch immer ungelöst ist: die Frage der demokratischen Legitimität. Wie demokratisch ist die Europäische Union? Und wieviel Demokratie braucht sie eigentlich? Politikwissenschaftler und Juristen aus 16 europäischen Ländern und den USA tagten hierzu am MZES. Kohler-Koch leitet in der Einrichtung einen Forschungsschwerpunkt zum Thema "Regieren in der EU".

    Dass das Demokratiedefizit der Europäischen Union behoben werden müsse, darüber waren die Forscher sich einig. Strittig blieb vielmehr, welcher Weg einzuschlagen sei und wie weit man überhaupt gehen sollte. Könnte mehr Bürgerbeteiligung und eine bessere Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen die Praxis europäischen Regierens verbessern? Bringt die Stärkung des Europäischen Parlaments mehr Demokratie? Oder könnte das Legitimitätsproblem der EU durch ein Mehr an europäischer Öffentlichkeit und Identität gelindert werden?

    "Die EU ist ein politisches System der eigenen Art, das es so kein zweites Mal gibt", betonte Beate Kohler-Koch die Eigenartigkeit und Einzigartigkeit der EU. "In diesem hochfragmentierten, dezentralen System, das mehrere Ebenen wie internationale, nationale aber auch regionale Entscheidungsstrukturen umfasst, gelten andere Regeln", erläuterte die Integrationsforscherin von der Universität Mannheim. Als stark bürokratisierte Technokratie, die auf Expertenwissen stärker angewiesen ist als auf parteipolitische Vorgaben, gehorche die Europäische Union anderen Gesetzmäßigkeiten, als dies bei Regierungen der einzelnen Staaten der Fall ist. "Es ist also nicht allein damit getan, der EU ein nationales Demokratiemodell überzustülpen", monierte die Leiterin des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Forschungsschwerpunktes "Regieren in Europa". Die Herausforderung bestehe eben genau darin, Demokratie auf europäischer Ebene zu etablieren.

    "Natürlich wollen alle mehr Demokratie für Europa", bestätigte auch Rudy Andeweg. "Doch muss erst geklärt werden, welches Demokratiemodell eigentlich gemeint ist", gab der Politologe aus Leiden zu bedenken. Mehr parlamentarische Demokratie erreiche man beispielsweise durch mehr Kompetenzen des Europäischen Parlaments. So habe das europäische Abgeordnetenhaus nicht nur als Mit-Gesetzgeber, sondern auch als Meinungsforum kräftig an Bedeutung gewonnen, wie Andreas Maurer von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin belegte.

    "Und doch ist die Kluft zwischen Bürgern und den europäischen Institutionen viel zu groß", kritisierte Michael Greven den Mangel an politischen Mitgestaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen. "Doch die pauschale Forderung nach mehr politischer Beteiligung hilft uns nicht weiter", kritisierte der Demokratietheoretiker das sogenannte "partizipative Regieren" als Modeerscheinung. Wenn mit Partizipation nichts anderes gemeint sei, als dass bestimmte Interessengruppen und Lobbyisten in Brüssel ausschließlich ihre Anliegen vortragen, habe das mit Demokratie nicht viel zu tun. "Denn diese kollektiven Akteure sind weder gewählt noch besitzen sie ein Mandat, das sie wie die Parteien zu legitimen Vertretern der Bürger macht" erklärte der Politikwissenschaftler von der Universität Hamburg.

    Auf Alternativen zum vielgeschmähten bürgerfernen, bürokratischen Lobbyisten-Babel setzten auch die Fürsprecher des sogenannten deliberativen Demokratiemodells. Hierbei sollen Probleme stärker durch die Beteiligung Betroffener und auf der Grundlage des "vernünftigen" Austausch von Argumenten gelöst werden.

    "Die EU ist nicht "gewachsen" wie die nationalen Demokratien, sondern sie wurde von europäischen Staatsmännern zur Friedenssicherung und Einigung Europas geschaffen", erläuterte der Politologe Peter Mair die besondere Entstehungsgeschichte der Europäischen Gemeinschaft. Das demokratische Defizit sei von den Erschaffern zwar nicht beabsichtigt, aber sicherlich in Kauf genommen worden. "Die Europäer müssen sich daher mit einer Form von `Low FatŽ-Legitimität zufrieden geben", wandt der Wissenschaftler an der Universität Leiden ein.

    Demokratie "light" zur Beseitigung demokratischer Mangelerscheinungen? Ob das wirklich reicht, blieb umstritten. Breit unterstützt wurde dagegen die Forderung nach mehr Transparenz und Offenheit der Entscheidungen auf europäischer Ebene. "Der Bürger muss politische Entscheidungen besser nachvollziehen können und erkennen, wer wofür verantwortlich ist", forderte der Politologe John Erik Fossum aus Oslo.

    Als vielversprechend wurde die Entwicklung einer gemeinsamen Öffentlichkeit und Identität eingeschätzt. "Die Bürger brauchen einen europäischen Resonanzraum, um auf politische Entscheidungen reagieren zu können", erläuterte Klaus Eder, Politikwissenschaftler an der Humboldt Universität Berlin. "Eine Schicksalsgemeinschaft sind die Europäer durch ihre gemeinsame Vergangenheit und die EU bereits geworden", meinte Armin von Bogdandy. "Jetzt fehlt uns noch das "Wir-Gefühl", monierte der Jurist vom Max-Planck-Institut für öffentliches und internationales Recht in Heidelberg.


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    Criteria of this press release:
    Economics / business administration, Law, Politics
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Science policy, Scientific conferences
    German


     

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