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Das Soziologische Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) hat im heute erschienenen nationalen Bildungsbericht „Bildung in Deutschland 2020“ den Bereich der beruflichen Bildung bearbeitet. Als zentrale Herausforderungen stellen sich die bestehenden Passungsprobleme am dualen Ausbildungsmarkt, Probleme der Fachkräftesicherung in den personenbezogenen Dienstleistungsberufen sowie die mit der zunehmenden Digitalisierung einhergehenden Veränderungen in den Qualifikationsanforderungen dar. Darüber hinaus bestehen anhaltende soziale Disparitäten beim Ausbildungszugang, die sich in verschiedenen Übergangsmustern auf dem Weg in die berufliche Bildung zeigen.
„Die leicht gestiegenen Neuzugänge in eine vollqualifizierende berufliche Ausbildung und erneut rückläufige Einmündungen in den Übergangssektor dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die berufliche Ausbildung gravierende Herausforderungen im Hinblick auf Fachkräftesicherung und soziale Integration bestehen“, betont Prof. Susan Seeber (Universität Göttingen / SOFI), die als Mitglied einer unabhängigen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern den Bildungsbericht 2020 erstellt hat.
Eine insgesamt fast ausgeglichene Ausbildungsstellenbilanz im dualen System kann nicht über zweierlei hinwegtäuschen: Zum einen gibt es nach wie vor Länder, in denen das Angebot deutlich unter der Nachfrage liegt. Beispiele dafür sind die Stadtstaaten Berlin und Hamburg sowie die westdeutschen Flächenländer Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hessen. Doch auch in Ländern, mit einem ausgeglicheneren Verhältnis von Angebot und Nachfrage stellen sich vor dem Hintergrund anhaltend hoher Passungsprobleme Fragen der Leistungsfähigkeit und der Fachkräftesicherung. Passungsprobleme beschreiben das gleichzeitige Auftreten von unversorgten Jugendlichen und unbesetzten Ausbildungsstellen. Besonders ausgeprägt sind diese in den ostdeutschen Flächenländern Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sowie in Baden-Württemberg.
Die bedeutsamste Problemlage stellen eigenschafts- bzw. verhaltensbezogene Passungsprobleme dar. So hebt Dr. Maria Richter aus dem SOFI-Team hervor: „Bei dieser Art von Passungsproblem liegt ein Mismatch zwischen Ausbildungsvoraussetzungen der Jugendlichen und Anforderungen der Betriebe oder zwischen den Erwartungen der Jugendlichen an Ausbildungsbedingungen und vorgefundenen betrieblichen Gegebenheiten vor. Allerdings sind in den letzten 11 Jahren besonders stark die berufsfachlichen Passungsprobleme gestiegen, also das Auseinanderklaffen von Berufswünschen der Jugendlichen und den angebotenen beruflichen Ausbildungsstellen. Dies dürfte auch mit der unterschiedlichen Attraktivität der angebotenen und nachgefragten Ausbildungsberufe in Zusammenhang stehen. Es ist daher wichtig, dass die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen sowie Berufsbilder so weiterentwickelt werden, dass die betroffenen Berufe auch wieder hinreichend nachgefragt werden.“
Probleme der Fachkräfteversorgung betreffen zudem Berufe des Schulberufssystems. Zwar ist das Schulberufssystem, das inzwischen vor allem Personen in Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialberufen ausbildet, wieder leicht gewachsen. Allerdings ist damit die Fachkräftesicherung in den Gesundheits- und Erziehungsberufen noch lange nicht gewährleistet, wie die aktuelle Corona-Pandemie deutlich sichtbar werden lässt. Ungelöste Fragen betreffen aber nicht nur hinreichende Quantitäten der Ausbildung, sondern auch die Ausbildungsqualität.
Die Funktionsfähigkeit des Ausbildungssystems ist mit Blick auf die Ausbildungsintegration aller Ausbildungsinteressierten ebenso kritisch zu hinterfragen. Immer noch mehr als ein Viertel aller Neuzugänge ins berufliche Ausbildungssystem mündet zunächst in eine Übergangsmaßnahme ein. Analysen mit dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) zeigen, dass für einen Teil der Jugendlichen solche Wege mit einer Zwischenstation im Übergangssektor durchaus mit Erfolg verbunden sind. Ein nicht unerheblicher Anteil an Jugendlichen erlebt jedoch nicht nur wiederholte Schleifen im Übergangssektor, sondern fragmentierte Verläufe mit häufigen Wechseln zwischen Bildungs-, Erwerbs- und Arbeitslosigkeitsphasen. Dabei zeigt sich: Das Risiko eines instabilen Übergangsprozesses ist bei einem niedrigen Schulabschluss, geringem sozioökonomischen Status und einem Migrationshintergrund besonders hoch. Die seit langem beobachtbaren Benachteiligungsmuster im Ausbildungszugang bleiben also weiterhin bestehen. „Es bleibt daher eine der verschärften Herausforderungen für die Bildungspolitik, diesen Jugendlichen eine vielversprechendere berufliche Perspektive zu ermöglichen“ hebt Prof. Seeber hervor. Gerade vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie und einer drohenden Abnahme des betrieblichen Ausbildungsplatzangebots ergibt sich ein dringender politischer Handlungsbedarf. Neben finanziellen Anreizen für Ausbildungsbetriebe wird es wahrscheinlich auch verstärkt außerbetriebliche Angebote sowie zusätzlicher Stützmaßnahmen benötigen, um die Zukunftschancen der betroffenen Jugendlichen zu wahren.
Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt betrifft die berufliche Bildung in besonderem Maße. Auf der einen Seite ergeben sich Verschiebungen in der Fachkräftenachfrage zwischen Berufen und Berufsfeldern. Auf der anderen Seite verändern sich Anforderungen innerhalb von Berufen: Daher werden in der Ausbildung neben berufsfachlichen und digitalen Kompetenzen verstärkt Problemlöse-, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeiten adressiert, die für ein Verständnis der Zusammenhänge betrieblicher Leistungsprozesse und ein Handeln in stark vernetzten Strukturen erforderlich sind. „Allerdings bedarf gerade die Entwicklung solcher übergreifender Fähigkeiten Phasen der Systematisierung und Reflexion von Erfahrungen, die jedoch nicht per se in jedem Betrieb gewährleistet sind. Die Ungleichzeitigkeit technologischer Entwicklungen und Neuerungen in den ausbildenden Unternehmen sowie die beträchtliche Heterogenität in den Ausbildungsbedingungen stellen für die berufliche Bildung große Herausforderungen dar“ betont SOFI-Forscher Dr. Volker Baethge-Kinsky. In diesem Sinne werden auch ausbildungsorganisatorische Anforderungen in den Blick zu nehmen sein, um der Gefahr des Auseinanderdriftens von Ausbildungsqualitäten zu begegnen.
Trotz dieser Herausforderungen, mit denen sich die berufliche Bildung konfrontiert sieht, verdeutlicht der Bericht aber auch den Wert einer beruflichen Ausbildung: Im Vergleich zu Personen, die keinen Ausbildungsabschluss aufweisen, sind Personen mit Ausbildungsabschluss deutlich seltener erwerbslos oder nichterwerbstätig. Die hohe Integrationskraft eines dualen oder vollzeitschulischen Ausbildungsabschlusses für den Arbeitsmarkt zeigt sich nicht zuletzt auch im internationalen Vergleich.
Über den nationalen Bildungsbericht:
Der nationale Bildungsbericht „Bildung in Deutschland“ wird von einer unabhängigen Autorengruppe unter Federführung des Deutschen Instituts für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) und unter Beteiligung des Deutschen Jugendinstituts (DJI), des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW), des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI) an der Universität Göttingen, des Leibniz-Instituts für Bildungsverläufe (LIfBi) und der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (Destatis, StaLÄ) erarbeitet. Die Kultusministerkonferenz (KMK) und das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördern die Erarbeitung des Berichts.
An der Erstellung des vom SOFI verantworteten Kapitels „Berufliche Ausbildung“ haben mitgewirkt: Dr. Maria Richter (SOFI), Dr. Volker Baethge-Kinsky (SOFI) sowie Robin Busse (Abt. Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung, Universität Göttingen).
Der nationale Bildungsbericht wird alle zwei Jahre auf Basis von amtlichen Statistiken sowie sozialwissenschaftlichen Daten und Studien erstellt. Als systematische Bestandsaufnahme des gesamten Bildungswesens verfolgt er langfristige Entwicklungslinien und macht auf neue Akzentuierungen aufmerksam.
Weitere Informationen und Kontakt:
Prof. Dr. Susan Seeber, Abt. Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung an der Georg-August-Universität Göttingen, Tel.: +49 551 39-244 21, E-Mail: susan.seeber@wiwi.uni-goettingen.de
Dr. Volker Baethge-Kinsky, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V., Tel.: +49 551 52205-0, E-Mail: volker.baethge@sofi.uni-goettingen.de
Dr. Maria Richter, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V., Tel.: +49 551 52205-0, E-Mail: maria.richter@sofi.uni-goettingen.de
Dr. Jennifer Villarama, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V., Tel.: +49 551 52205-19, E-Mail: kommunikation@sofi.uni-goettingen.de
http://www.sofi.uni-goettingen.de/
Prof. Dr. Susan Seeber, Abt. Wirtschaftspädagogik und Personalentwicklung an der Georg-August-Universität Göttingen, Tel.: +49 551 39-244 21, E-Mail: susan.seeber@wiwi.uni-goettingen.de
Dr. Volker Baethge-Kinsky, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V., Tel.: +49 551 52205-0, E-Mail: volker.baethge@sofi.uni-goettingen.de
Dr. Maria Richter, Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V., Tel.: +49 551 52205-0, E-Mail: maria.richter@sofi.uni-goettingen.de
http://www.sofi.uni-goettingen.de/
Criteria of this press release:
Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils, all interested persons
Economics / business administration, Politics, Social studies, Teaching / education
regional
Research results
German
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