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NBS-Forscher Dr. Marcel Schütz schreibt für den Springer-Wissenschaftsverlag an einer soziologischen Analyse des Weihnachtsfestes. Was charakterisiert den gesellschaftlichen Umgang mit dieser Zeit? Wie wirken sich Erwartungen und Stimmungen auf die Wahrnehmung des Weihnachtsfestes aus? Ein Interview über die einzigartige Spannung eines ewigen Festes – ob nun mit oder ohne Corona.
Herr Schütz, Sie schreiben gerade an einem Buch über Weihnachten, das im nächsten Jahr erscheint. Bücher über Weihnachten gibt es ja viele. Sie interessiert speziell die soziale, gesellschaftliche Dimension des Festes. Erklären Sie mal, was einen Gesellschaftsforscher an Weihnachten interessiert?
Einen Gesellschaftsforscher interessieren die Erwartungen, Formen und Praktiken, die sich um dieses einerseits gewöhnliche, andererseits außergewöhnliche Fest drehen. Die soziale Sensibilität ist im letzten Monat des Jahres besonders fokussiert und verdichtet: Bräuche und Riten, Klang und Gesang, Düfte und Geschmäcke folgen einem zeitlichen Ablauf, der in verschiedenen Bereichen seinen Ausdruck findet. Die Wirtschaft kalkuliert mit Weihnachten, die Kirche begeht die Zeit mit Andacht und Besinnlichkeit, auch Kunst, Kultur und das Bildungswesen bleiben nicht unberührt. Wenn Sie in die Schaufenster, ins Theater, Fernsehen, Internet oder in die Literatur sehen – alles wird auf Weihnachten "programmiert". Die nahende, sich langsam aufbauende Festlichkeit führt zu einer Entgrenzung von Eindrücken und Erfahrungen. Wir sprechen von der Weihnachtsstimmung, die man hat oder nicht hat. Wie eine so besondere Zeit in sozialen Interaktionen, also in den Beziehungen, aber auch mithilfe organisatorischer Abläufe gestaltet und veranstaltet wird, das ist es, was für ein soziologisches Weihnachtsbuch oder eine "Weihnachtssoziologie" interessant erscheint.
Blicken wir mal auf das vergangene Weihnachten. Eines wie kein anderes. Die Beschränkungen führten am Ende dazu, dass viele gar nicht zusammen feierten, obwohl sie gedurft hätten. Man war sehr vorsichtig. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sieht es so aus, als könnte man dieses Mal immerhin wieder halbwegs normal feiern. Was wird anders sein, was wie zuvor?
Das stimmt. Richtig ist natürlich auch, dass man in den letzten Monaten eindrucksvoll erleben konnte, wie schnell sich die Dinge änderten. Im vergangenen Jahr haben ja, wie gesagt, viele vorbeugend von einem gemeinsamen Treffen buchstäblich Abstand genommen. Neu oder eher "alt" ist jetzt, dass man das Fest selbst wieder mehr in gewohnter Manier verbringen kann. Der Advent ist ja ohnehin eine Wartezeit, eine Zeit der großen Erwartungen. So passt zufällig das eine zum anderen.
Das wird ja schon im Wort Advent angedeutet…
Ja, adventus, so viel wie "Ankunft" – die Warte- und Vorbereitungszeit der Christen auf die Geburt Christi bzw. das Fest der Erinnerung daran. Stück für Stück stimmt man sich auf das nahende Weihnachtsfest ein. Und jetzt stimmt man sich nicht nur auf Weihnachten an sich ein, sondern auch auf seine altvertraute Form: längere Auto- und Zugfahrten nach Hause, das Eintreffen der Verwandten, der große Tisch mit dem Festessen, Spaziergänge, die Weihnachtsfilme auf dem Sofa usw. Manche mögen das nun in "doppelter Vorfreude" erleben. Man wird sich auch noch in 20 und 30 Jahren an das einzigartige Corona-Weihnachten 2020 erinnern und an das erste wieder mehr "normalisierte" Weihnachten danach. So wie man sich an weiße Weihnachten mit Schneegestöber erinnert, die bei uns ja etwas eher Seltenes sind.
Sie sprechen die besonderen Erwartungen gegenüber dem Weihnachtsfest an. Wenn man sich einmal zurück erinnert, wurden die Einschränkungen des letzten Festes auch kritisch diskutiert. Die Frage drängt sich auf: Warum liegt uns eigentlich so viel an dieser Festzeit, die sich ohnehin ja jedes Jahr wiederholt? Manche würden sich von den sozialen Verpflichtungen vielleicht sogar gern etwas erholen. Doch irgendwie wird einem Weihnachten wohl nicht so richtig leid?
Etwas spitz könnte man sagen: Letztes Jahr gab es eine "coronabedingte Weihnachtsdiät". Ich glaube, dass das manch einem sogar zupass kam. Sicher nicht für die Mehrheit. Aber nicht verreisen zu müssen, nicht unbedingt zu diesem und jenem Termin bei der Verwandtschaft aufzukreuzen – das hatte für den ein oder anderen wohl auch etwas Gutes. Generell scheint es jedoch so zu sein, dass viele Leute darüber wenig glücklich waren. Die ungebrochene Wiederholungsschleife des Weihnachtsfestes führt nicht zur totalen Abstumpfung oder Langeweile. Natürlich gibt es Weihnachtsstress und man ist froh, wenn es wieder vorbei ist. Ganz verzichten wollen aber die wenigsten.
Man verbringt in seinem Leben hunderte Stunden Weihnachtszeit, inmitten von Keksgebäck, Glühwein und Tochter Zion, kollabiert aber trotzdem nicht…
So ist es. Und da wir unser ganzes Leben in Jahren messen, ja fast alles überwiegend in dieser Zeitstruktur wahrnehmen, sind elf Monate immer wieder eine genügend lange Zeit, in der viel anderes geschieht. Jedes Lebensjahr gibt es ein Weihnachten. Wodurch sich ja diese spürbar enge Kopplung von Biografie und Weihnachtserfahrungen einstellt. Selbst sehr alte Menschen erinnern sich oft gut ans Weihnachten ihrer Kindheit, auch wenn sie viel ansonsten danach vergessen haben. Wir können Weihnachten so erleben, wie wir es erleben, da wir dazwischen immer wieder einen Frühling haben mit dem Erwachen der Natur, einen Sommer mit langen Tagen und lauen Nächten und einen Herbst, der in die Vorweihnachtszeit führt. Und dann sind wir auch noch ein Jahr älter geworden, haben neue Erfahrungen in Beruf und Privatleben gemacht, Menschen kennengelernt und verloren. Die Eindrücke aus unseren Beziehungen, aus der ganzen Umwelt, all das schafft genügend Unterbrechung und Ablenkung, um jedes Weihnachten wieder als einen Höhepunkt dieser einen festen Periode, eines Jahres, zu erfahren.
Liegt das auch am finalen Platz im Jahr? Wenn man sich nochmal 2020 anschaut, könnte man ja sagen: Hier gab es eine Art Spannungsbogen. Die Krise kam im Frühjahr. Dann gab es die Entspannung im Sommer, dann einen neuen heißen Herbst und einen langen Winterlockdown. Weihnachten scheint ja ohnehin etwas Ultimatives zu haben, eine Zäsur zu sein, die in so einer Krise wie der Corona-Pandemie vielleicht auch nochmal stärker als sonst wahrgenommen wird?
Das ist ein spannender Gedanke. Weihnachten, wie man es heute begeht, hat wohl schon lange etwas Ultimatives. Dabei ist es ja eigentlich eher eine Art Umschwung und Neustart. Die Geburt Christi, die Sonnenwende, der gefühlt beginnende Übergang ins kommende Jahr – alles das kündet eigentlich nicht vom Ende, sondern von einem Anfang. Es wird ab jetzt wieder länger hell draußen. Und ähnlich ist ja auch die Aussage von Weihnachten: Es kommt Licht in die Welt. Durchaus also optimistisch und hoffnungsvoll, speziell für religiös geprägte Menschen. Dieses Hoffnungsvolle in einer dunklen Zeit hat zur großen Strahlkraft des Festes beigetragen. Die Faszination für all die Lichterketten und Kerzen kommt ja nicht von ungefähr – der Dezember ist bei uns schließlich so ziemlich der dunkelste Monat des Jahres. Zugleich ist das Weihnachten, wie wir es erwarten und vor allem die Zeit davor planen, in hohem Maße ultimativ erfahrbar, das stimmt.
Weil alles auf ein Ende hinausläuft, auf das, was man im Jahr noch zu tun hat, bevor Weihnachten, scheinbar alle Jahre wieder völlig überraschend, vor der Tür steht.
Ganz genau. Man stellt beispielsweise im Job schon zum Spätsommer oder Herbst fest, was "noch vor Weihnachten" fertig oder nicht mehr fertig wird. Der Dezember ist ein im öffentlichen Leben etwas verkürzter Monat. Vieles Geschäftliche und Amtliche kann man höchstens bis Anfang der dritten Woche auf den Weg bringen. Und es werden natürlich Karten verschickt, Geschenke vorbereitet, nochmal Freunde angerufen. Weihnachten ist also schon geprägt von letzten sozialen Rechnungen, wenn man so sagen will. Von Erledigungsdruck und Fristen, die man ebenso auferlegt bekommt, wie man sie sich selbst gibt. Auch wenn man mit dem Fest an sich nichts am Hut hat, keinen oder anderen Religionen angehört. Man muss sich ja nach den anderen, nach einer Mehrheit richten. Dass dann ein Lockdown diesen ganzen Trubel der gewohnten Routinen durchkreuzen und die Gemüter erhitzen kann, das erscheint ziemlich plausibel.
Etwas spitz könnte man ja auch sagen: Ein bisschen Lockdown gab es schon immer, gerade an Weihnachten und in den Tagen danach.
Das stimmt. In unseren Breiten wird in keinem Abschnitt des Jahres das öffentliche Leben so stark heruntergefahren oder gedämpft, wie in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr. Ganz im Kontrast zur vielen Einkaufs- und Organisationshektik kurz zuvor. Nun ist aber ja gar nicht das dreitägig gefeierte Weihnachten an diesem "Einschlafen" des Jahres schuld, sondern die Phase danach. Vielerorts ruht die Arbeit zwischen den Jahren oder wird reduziert. Dort, wo die Arbeit genauso weiterläuft, gibt es weniger zu tun, weil weniger Leute unterwegs sind. Sicherheits- und Rettungsdienste einmal ausgenommen. Dort wo Schlimmes und Plötzliches geschieht, dort läuft alles weiter und die heile Welt der schönen Routine kann nicht geteilt werden.
Und gleich hinten dran kommt Silvester, quasi ein kleines, manchmal aber auch größeres "Nachfest"…
Silvester werden Nägel mit Köpfen gemacht. Die kurz zuvor hochfestliche und etwas gediegene Stimmung wechselt in feucht-fröhliche Gelassenheit. Silvester ist kein klassisches Fest für die Familie und es gibt viele individuelle Formen, wie man diesen Tag und seine Nacht begeht. An sich ist das fantastisch "gemacht": Erst beschaulich und erhebend zu Weihnachten, dann flott und frech eine Woche später. Danach kommt die pflichtmäßige Ausnüchterung. Die erste Januarwoche ist noch ein allmähliches Ankommen in etwas Neuem. Dagegen ist Ostern eine schnelle Geschichte, obwohl man es – was immer dazu gesagt werden muss – in der christlichen Lehre eigentlich höher als Weihnachten ansiedelt. Aber das liegt einfach mitten im frühen Jahr und es gibt danach keinen großen Wechsel, sondern alles geht so weiter und muss sich noch entwickeln. Das Jahresende direkt nach Weihnachten und die Vorwegnahme dieses Endes und der Ausblick auf das Neue bereits zum Fest, genau das macht die weihnachtliche Dramaturgie aus, die kein Fest ersetzen kann.
Vielleicht noch ein Blick auf die sozialen Beziehungen. Das vergangene Jahr hat ja vielerorts Familien, Freunde und Partner getrennt. Muss man jetzt was nachholen?
Ich glaube, das Jahr über boten sich dazu schon viele Gelegenheiten. Natürlich wird es auch diese Weihnachten Beschränkungen geben. Allein deshalb, da viele Leute auf Nummer sicher gehen, sich vor jedem größeren Treffen testen. Beziehungspflege an Weihnachten, das ist ja schon immer ein ambivalentes Thema gewesen. Man denke nur an den berühmten Weihnachtsstreit, an die Eskalationen an Tagen, an denen zu viel schwerer Kerzenduft im Raum steht. Alles zu dick und zu direkt. Andererseits ist Weihnachten die Zeit, zu der Kinder ihre neuen Partner mit nach Hause bringen, die Großeltern nochmal kommen. Leute sitzen vorm knisternden Kamin oder auf dem Sofa, es schlägt Mitternacht, man geht schlafen und freut sich aufs Weihnachtsfrühstück usw. Weihnachten ist sozial betrachtet eben auch eine familiär-intime Angelegenheit. Wir werden da alle ein wenig zu Romantikern. Und sei es nur deshalb, um anderen, die man gern hat, und denen diese Tage mehr bedeuten, einen Gefallen zu tun. Man kann den Weihnachtsbesuch nicht absagen, wenn man keine dringenden Gründe hat. Sonst hat man ein schlechtes Gewissen. So ist das halt.
Quasi eine gesellschaftliche Pflicht. Aus Weihnachten kommt keiner so richtig raus?
Ganz klar ja. Es gibt natürlich auch gewisse Aversionen gegen Weihnachten. Weil man das ohnehin mit so viel Beziehungsarbeit und persönlicher Nähe verbindet, ruft es vielleicht bei dem ein oder anderen unschöne Erinnerungen auf. Oder es ist einem einfach alles zu viel und intensiv. Weihnachten ist ja immer auch ein Einfügen in eine Harmonie, von der man an sich weiß, dass sie eigentlich übertrieben ist. Es ist eben für kurze Zeit eine relativ strikte soziale Anordnung mit vielen Erwartungen, wie man sich zu verhalten hat. Manch einer sagt sich: Wozu? Aber ehe man sich versieht, wird man vielleicht doch mit Weihnachtsstimmung angesteckt. Wie gesagt – es ist alles etwas ambivalent. So wie die ganzen Eindrücke in diesen mal besinnlichen, mal anstrengenden Tagen zwischen zwei Jahren.
Vielen Dank für das Gespräch und eine schöne Weihnachtszeit.
Ihnen auch, danke ebenso.
Marcel Schütz hat in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften promoviert und ist Research Fellow an der Northern Business School. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte liegen in der Organisationsforschung und der Gesellschaftstheorie.
Die NBS Northern Business School – University of Applied Sciences ist eine staatlich anerkannte Hochschule, die Vollzeit-Studiengänge sowie berufs- und ausbildungsbegleitende Studiengänge in Hamburg anbietet. Zum derzeitigen Studienangebot gehören die Studiengänge Betriebswirtschaft (B.A.), Sicherheitsmanagement (B.A.), Soziale Arbeit (B.A.) und Real Estate Management (M.Sc.).
Ihr Ansprechpartner für die Pressearbeit an der NBS Hochschule ist Frau Kathrin Markus (markus@nbs.de). Sie finden den Pressedienst der NBS mit allen Fachthemen, die unsere Wissenschaftler abdecken, unter www.nbs.de/die-nbs/presse/expertendienst.
https://www.nbs.de/die-nbs/aktuelles/news/details/news/ein-fest-das-man-einfach-...
Dr. Marcel Schütz forscht über Gesellschaft und Organisation. Zur Zeit befasst er sich mit Weihnacht ...
Criteria of this press release:
Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils, all interested persons
Social studies
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