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Wissenschaft
Das Angebot familienorientierter Hilfsprogramme in Österreich ist sehr gering, insbesondere wenn die Kinder älter als drei Jahre sind. Eine Ausnahme ist das von der Ludwig Boltzmann Gesellschaft und der Med-Uni Innsbruck finanzierte Projekt „Village“, in dem ein familienorientiertes Unterstützungsprogramm für Familien, in denen ein Elternteil psychisch belastet ist, umgesetzt wird. Das Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) hat im Rahmen des Projekts eine Studie zu gesellschaftlichen und gesundheitsökonomischen Dimensionen psychischer Erkrankungen in Familien analysiert. Die Ergebnisse zeigen, wie wichtig präventive Maßnahmen sind.
Epidemiologischen Daten zufolge haben in Österreich zumindest 250.000 psychisch belastete Eltern minderjährige Kinder. Etwa jedes vierte Kind wächst punktuell oder längerfristig mit einem psychisch erkrankten Elternteil auf. Die kurz- und langfristigen sozialen Auswirkungen dieser meist prekären Familiensituationen können mit der Methode des Wirkmodells, das Kausal- und Wechselbeziehungen in grafischer und beschreibender Form darstellt, erforscht werden. Auch wenn die betroffenen Kinder und Jugendlichen auf dem Weg zum Erwachsenwerden nicht zwingend gesundheitliche Probleme entwickeln, so hat die systematische Übersichtsarbeit des Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA) von insgesamt 39 Studien dennoch gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Verhaltensauffälligkeiten in Form von aggressivem Verhalten deutlich erhöht ist. Zudem wurden auch negative Auswirkungen auf die körperliche Gesundheit – etwa ungesunde Ernährungsgewohnheiten oder schlechte Zahngesundheit – festgestellt. Die belastenden Bedingungen können sich darüber hinaus auf das soziale Leben auswirken. So dürfte die elterliche psychische Erkrankung bei manchen Kindern auch einen negativen Einfluss auf die Anwesenheit der Kinder und Jugendlichen in der Schule und die allgemeinen schulischen Leistungen haben. Das kann wiederum dazu führen, dass im weiteren Erwachsenenleben das Risiko für Arbeitslosigkeit oder prekären Berufssituationen steigt. „In einigen Fällen wurden auch vermehrt kriminelle Delikte beobachtet“, heißt es im AIHTA-Bericht weiter.
„Auch wenn nicht alle Kinder betroffen sind, führen diese potenziellen Auswirkungen in der Summe zu umfassenden gesellschaftlichen Kosten, wie etwa zu einem erhöhten Bedarf an psychosozialer und psychiatrischer Versorgung oder anderer medizinischer Leistungen“, sagt Studienleiter Christoph Strohmaier. Dem Experten zufolge sollte außerdem beachtet werden, dass resultierende Kosten nicht nur im Gesundheitsbereich entstehen, sondern ebenso in anderen öffentlichen Sektoren anfallen, möglicherweise auch erst zu einem späteren Zeitpunkt wie beispielsweise in einem erhöhten Bedarf an Mindestsicherung.
Eine Möglichkeit, den generationenübergreifenden Kreislauf psychischer Erkrankungen zu durchbrechen und negative Folgen abzumildern oder gar zu verhindern, sind familienorientierte Interventionsprogramme mit sozialen Unterstützungssystemen. Diese Programme verfolgen einen präventiven Ansatz und gehen über klassische Therapieformen wie der psychotherapeutischen Verhaltenstherapie hinaus, da sie Personen aus unterschiedlichen Professionen einbinden und eine breitere Vielfalt an Maßnahmen bieten (z.B. Unterstützung durch Peers, Psycho-Edukation usw.).
„Village Projekt“: Einfach wieder Kind sein
Das Angebot familienorientierter Hilfsprogramme in Österreich ist sehr gering, insbesondere wenn die Kinder älter als drei Jahre sind: „Gezielte Unterstützung betroffener Familien existiert nur punktuell. Die Kinder und ihre Bedürfnisse werden oft nicht wahrgenommen – erst wenn die Probleme akut werden, entsteht Aufmerksamkeit“, kritisiert Ingrid Zechmeister-Koss, die den Bereich Gesundheitsökonomie und Versorgungsforschung am AIHTA leitet. Noch seltener erfolgt eine umfassende wissenschaftliche Begleitforschung. Eine Ausnahme ist das „Village Projekt“ – ein internationales Forschungsprojekt der Ludwig Boltzmann Gesellschaft und der Medizinischen Universität Innsbruck, in dem das AIHTA seit 2018 Partner ist. Dafür wurde ab November 2019 in Tirol ein auf Basis internationaler Best-Practice Ansätze entwickeltes Screening- und Unterstützungsprogramm umgesetzt, an dem insgesamt 30 Familien teilnahmen.
Um Kinder aus psychisch belasteten Familien frühzeitig wahrzunehmen, führten behandelnde Psychiater*innen aus dem Spitals- und niedergelassenen Bereich oder Allgemeinmediziner*innen bei ihren Patient*innen ein kurzes standardisiertes Screening durch. Anschließend wurde den Eltern ein weiterführendes Unterstützungsprogramm angeboten, das individuell auf den Bedarf der jeweiligen Familien zugeschnitten ist. Das Programm aktiviert für betroffene Kinder und deren Familien unterschiedliche Formen sozialer und primär informeller Unterstützung, wie ehrenamtliche schulische Nachhilfe, Kinderbetreuung, Psycho-Edukation und Nachbarschaftshilfe. Bei Bedarf wird auch professionelle Hilfe – sofern vorhanden - organisiert. „Ziel ist es, ein nachhaltiges und selbstorganisiertes Netz um die Kinder aufzubauen, damit der Familienalltag entlastet wird. Die Kinder sollen wieder erleben können, einfach Kind zu sein“, erklärt Studienleiterin Jean Paul von der Medizinischen Universität Innsbruck.
Insgesamt erwarten sich die Forscher*innen positive Effekte für Eltern und Kinder auf drei Ebenen: Zunächst soll das Wissen zur psychischen Erkrankung des Elternteils erhöht und die Fähigkeit, verschiedene Unterstützungsangebote bei Bedarf in Anspruch zu nehmen, verbessert werden. „Die Kinder verfügen häufig nur über ein sehr begrenztes Wissen zur elterlichen Erkrankung, in vielen Familien wird darüber nicht gesprochen. Das führt zu Verunsicherung und Schuldgefühlen“, berichtet die AIHTA-Expertin. Ein weiteres Ziel ist es, eine Veränderung des Verhaltens herbeizuführen, indem die Kinder und vor allem auch die Eltern beispielsweise lernen, aktiv nach Hilfe zu fragen. Schließlich soll es auch zu Änderungen auf der emotionalen Ebene kommen und das Selbstwertgefühl der Kinder gestärkt werden.
Vielversprechende Ergebnisse
Die Datenauswertung für das „Village Projekt“ steht zwar noch am Beginn, die ersten Ergebnisse sind aber vielversprechend: Nach der Teilnahme am familienorientierten Unterstützungsprogramm berichteten die Kinder vor allem über Veränderungen auf der Kommunikationsebene. Konkret stieg das Wissen der Kinder über die psychische Erkrankung von Mama oder Papa deutlich an – nicht zuletzt deshalb, weil es zum erstmaligen Ansprechen von Tabus durch die Eltern kam.
Auch der Alltag der Kinder veränderte sich bei einigen positiv, indem sie beispielsweise weniger Verantwortung im Haushalt übernehmen mussten. Zudem konnte eine Zunahme des Selbstwertgefühls beobachtet werden.
Die Eltern berichten in erster Linie von einem Prozess der Haltungsänderung, der auch zu einer Veränderung des Verhaltens führte. Konkret waren einige Mütter und Väter nachher in der Lage, sich den Unterstützungsbedarf einzugestehen und deshalb aktiv nach Hilfe zu fragen. Dadurch kam es zu einer emotionalen Entlastung in der gesamten Familie. „Manche Mütter haben inzwischen sogar wieder zu arbeiten begonnen, obwohl sie das zu Beginn des Programms noch für sich ausgeschlossen hatten“, ergänzt Ingrid Zechmeister-Koss.
Im August 2022 endet das „Village Projekt“. Die beteiligten Wissenschafter*innen sind noch auf der Suche nach einer Finanzierung, mit der das Programm und die Begleitforschung weitergeführt werden können. „Unser Daten zeigen, dass wir mit rund 150.000 Euro weitere 50 Familien begleiten können. Im Vergleich zur ‚High-Tech-Medizin‘, in die jährlich Millionen Euro an öffentlichen Geldern investiert werden, ist der von uns benötigte Betrag extrem gering“, betont Zechmeister-Koss.
Gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis
Das AIHTA untersuchte in einem zweiten Teil der systematischen Übersichtsarbeit außerdem den gesundheitsökonomischen Effekt solcher familienorientierten Unterstützungsprogramme. Insgesamt wurden drei Programme aus anderen europäischen Ländern genauer analysiert, um das Kosten-Nutzen-Verhältnis von interdisziplinären Interventionen für psychisch belastete Familien zu ermitteln.
Alle drei Studien zielten darauf ab, die Elternschaft zu unterstützen und damit die positive Entwicklung des Kindes zu fördern. Als Vergleichsgruppe dienten Familien, die nur eine standardmäßige Regelversorgung (Usual Care) erhielten. Der Bericht liefert Hinweise darauf, dass familienorientierte Interventionsprogramme neben den präventiven und therapeutischen Erfolgen tendenziell ein gutes Kosten-Nutzen-Verhältnis aufweisen. „Jeder Euro ist sozusagen gut investiert. Die Aussagekraft der analysierten Studien ist allerdings limitiert, denn die gegenwärtigen gesundheitsökonomischen Methoden erfassen den Gesamtnutzen familienorientierter Programme nicht ausreichend. Es bleiben etwa langfristige soziale Effekte unberücksichtigt, so dass der tatsächliche Nutzen womöglich größer ist als in den Untersuchungen gemessen wurde“, resümiert Christoph Strohmaier.
Für Fragen zum „Village Projekt“:
Dr. Jean Paul, PhD, BASc, BSc (Projektleitung)
T +43 / 676 5800490
E-Mail: Jean.Paul@lbg.ac.at
Ingrid Zechmeister-Koss, Dr. rer. soc. oec., MA
T +43 / 1 / 2368119-19
E-Mail: ingrid.zechmeister@aihta.at
Für Fragen zur AIHTA-Studie:
Christoph Strohmaier, MSc
E-Mail: christoph.strohmaier@aihta.at
T +43 / 1 / 2368119-17
Kontakt für Fragen zur Veröffentlichung:
Mag. Günther Brandstetter; T +43 / 660 / 3126348
E-Mail: guenther.brandstetter@aihta.at
Strohmaier C, Hölzle L, The economic and societal dimension of parental mental illness –Systematic review and economic evaluation framework, AIHTA Project Report No.: 142; 2021. Vienna: HTA Austria – Austrian Institute for Health Technology Assessment GmbH. https://eprints.aihta.at/1351/
Criteria of this press release:
Journalists
Nutrition / healthcare / nursing, Psychology
transregional, national
Research projects, Research results
German
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