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Wissenschaft
Der genetische Ursprung der ersten Ackerbauern im Neolithikum schien lange Zeit im Nahen Osten zu liegen. Eine neue Studie, die in der Fachzeitschrift Cell veröffentlicht wurde, zeigt, dass die ersten Bauern in Wirklichkeit eine Mischung aus eiszeitlichen Jäger- und Sammlergruppen darstellten, die sich über den Nahen Osten bis nach Südosteuropa erstreckten. An der Studie waren Forschende der Universität Bern und des Schweizerischen Instituts für Bioinformatik sowie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Universität Freiburg beteiligt.
Die ersten Anzeichen für Ackerbau und eine sesshafte Lebensweise finden sich im sogenannten «Fruchtbaren Halbmond», einer Region im Nahen Osten, wo die Menschen vor etwa 11’000 Jahren begannen, sesshaft zu werden und Tiere und Pflanzen zu domestizieren. Die Frage nach dem Ursprung von Ackerbau und Sesshaftigkeit beschäftigt die Forschung seit über 100 Jahren: verbreitete sich der Ackerbau vom Nahen Osten aus durch kulturelle Diffusion oder durch Migration? Genetische Analysen prähistorischer Skelette stützten bisher die Vorstellung, dass die ersten Bauern Europas von Jägern und Sammlern in Anatolien abstammten. Diese neue Studie zeigt jedoch, dass sich die genetischen Ursprünge des Neolithikums (Jungsteinzeit) nicht eindeutig einer einzigen Region zuordnen lassen, sondern dass am Ende der Eiszeit eine unerwartete und komplexe Bevölkerungsdynamik stattfand, die zur genetischen Zusammensetzung derjenigen Bevölkerungsgruppen führte, die den Ackerbau und eine sesshafte Lebensweise erfanden.
Die ersten Bauern entstanden aus einem Mischungsprozess, der vor 14’000 Jahren begann
Frühere Analysen deuteten darauf hin, dass sich die ersten neolithischen Menschen genetisch von allen anderen Menschengruppen dieser Zeit unterschieden. Über ihre Ursprünge war wenig bekannt. Nina Marchi, eine der Erstautorinnen der Studie vom Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern und vom SIB sagt: «Wir zeigen nun, dass die ersten Bauern Anatoliens und Europas aus einer Bevölkerungsmischung zwischen Jägern und Sammlern aus Europa und dem Nahen Osten hervorgegangen sind.» Den Autorinnen und Autoren zufolge begann der Mischungsprozess vor rund 14’000 Jahren, worauf eine mehrere tausend Jahre dauernde Periode extremer genetischer Differenzierung folgte.
Ein neuer Ansatz zur Modellierung der Bevölkerungsgeschichte anhand prähistorischer Genome
Ermöglicht wurde diese Forschung durch die Kombination zweier Techniken: die Gewinnung hoch qualitativer Genome aus prähistorischen Skeletten in Verbindung mit demografischer Modellierung der daraus resultierenden Daten. Das Forschungsteam prägte dafür den Begriff «demogenomische Modellierung». «Es ist notwendig, Genomdaten von bestmöglicher Qualität zu haben, damit die neuesten statistischen Genommethoden die subtilen demografischen Prozesse der letzten 30’000 Jahre mit hoher Auflösung rekonstruieren können», sagt Laurent Excoffier, einer der Hauptautoren der Studie. Laurent Excoffier ist Professor am Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern und Gruppenleiter am SIB. Er initiierte das Projekt zusammen mit Joachim Burger von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Daniel Wegmann von der Universität Freiburg. Nina Marchi fügt hinzu: «Ein einfacher Vergleich der Ähnlichkeit verschiedener alter Genome reicht nicht aus, um zu verstehen, wie sie sich entwickelt haben. Wir mussten die tatsächliche Geschichte der untersuchten Populationen so genau wie möglich rekonstruieren. Dies ist nur mit komplexen populationsgenetischen Statistiken möglich.»
Interdisziplinarität ist der Schlüssel zur Lösung solch alter Rätsel
Joachim Burger von der Universität Mainz betont die Notwendigkeit der Interdisziplinarität: «Es hat fast zehn Jahre gedauert, die für eine solche Studie geeigneten Skelette zusammenzutragen und zu analysieren. Dies war nur durch die Zusammenarbeit mit zahlreichen Archäologen und Anthropologen möglich, die uns geholfen haben, unsere Modelle historisch zu verankern.» Die historische Kontextualisierung wurde von Maxime Brami koordiniert, der mit Burger an der Johannes Gutenberg-Universität zusammenarbeitet. Der junge Prähistoriker war von einigen der Ergebnisse der Studie überrascht: «Die ersten Bauern Europas scheinen von Jäger- und Sammlerpopulationen abzustammen, die vom Nahen Osten bis zum Balkan lebten. Dies war archäologisch nicht vorhersehbar.»
Ein Model der Evolution des Menschen in Südwestasien und Europa
Genetische Daten aus Fossilien (Skeletten) sind stark beschädigt und müssen mit Hilfe bioinformatischer Methoden entsprechend aufbereitet werden, wie Daniel Wegmann von der Universität Freiburg und Gruppenleiter am SIB erklärt: «Die hochauflösende Rekonstruktion der Vorgeschichte der Europäer war nur dank der neuen Methoden möglich, die wir speziell für die Analyse alter fossiler Genome entwickelt haben.» Joachim Burger ergänzt: «Mit diesen Ansätzen haben wir nicht nur die Ursprünge der ersten neolithischen Populationen der Welt aufgeklärt, sondern auch ein allgemeines Modell der Evolution menschlicher Populationen in Südwestasien und Europa erstellt.»
«Natürlich bleiben räumliche und zeitliche Lücken bestehen, und dies bedeutet nicht das Ende der Forschung über die demographische Entwicklung des Menschen in dieser Region», schliesst Laurent Excoffier. Der Forschungsplan des Teams steht also bereits fest: Sie wollen ihr demografisches Modell mit Genomen aus den späteren Phasen des Neolithikums und der Bronzezeit ergänzen, um ein immer detaillierteres Bild der menschlichen Evolution zu erhalten.
Universität Bern, Institut für Ökologie und Evolution, Computational and Molecular Population Genetics (CMPG) lab
Die Mitarbeitenden des Labors für Computational and Molecular Population Genetics (CMPG) der Abteilung Populationsgenetik des Instituts für Ökologie und Evolution (IEE) nutzen molekulare Techniken, theoretische Entwicklungen und Computersimulationen, um die demografische Geschichte von Populationen und Arten aus genetischen Daten zu rekonstruieren und zwischen alternativen evolutionären Szenarien zu testen.
https://www.cmpg.iee.unibe.ch/index_eng.html
Über das SIB Schweizerisches Institut für Bioinformatik
Das SIB ist eine international anerkannte, nicht gewinnorientierte Organisation, spezialisiert auf biologische und biomedizinische Datenwissenschaften. Ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wandeln Daten in Wissen um und befassen sich leidenschaftlich mit komplexen Fragen in vielen Bereichen der Lebenswissenschaften, von der Ökologie bis zur Medizin. www.sib.swiss
Arbeitsgruppe Paläogenetik der Johannes Gutenberg Universität Mainz
Die Arbeitsgruppe Paläogenetik am Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie (IOME) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz erforscht die genetische Populationsgeschichte des Menschen und seiner Haustiere. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf dem Neolithikum, der Zeit als die Menschen im Nahen Osten, in Anatolien und Europa vor etwa 7'000 bis 12’000 Jahren sesshaft wurden.
https://palaeogenetics-mainz.de
Universität Freiburg, Bioinformatik Lab
Das Bioinformatik Lab der Universität Freiburg entwickelt Methoden, um Datensätze alter DNA trotz vorhandener Schäden und anderen Komplikationen korrekt zu vergleichen.
https://www.unifr.ch/bio/en/research/bioinformatics/wegmann.html
Prof. Laurent Excoffier (Englisch, Französisch)
Dr. Nina Marchi (Englisch, Französisch)
Universität Bern, Institut für Ökologie und Evolution, Abteilung Populationsgenetik / SIB Schweizerisches Institut für Bioinformatik
E-Mail: laurent.excoffier@iee.unibe.ch / nina.marchi@iee.unibe.ch
Prof. Joachim Burger (Deutsch, Englisch, Italienisch)
Dr. Maxime Brami (Französisch, Englisch)
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Organismische und Molekulare Evolutionsbiologie (iomE)
E-Mail: jburger@uni-mainz.de; mbrami@uni-mainz.de
Marchi, Winkelbach, Schulz, Brami et al., The genomic origins of the world's first farmers, Cell (2022), doi: 10.1016/j.cell.2022.04.00, https://www.cell.com/cell/fulltext/S0092-8674(22)00455-X
Extraktion antiker DNA im Labor Universität Mainz. Die Arbeit erfolgt unter sterilen Bedingungen, um ...
Joachim Burger / JGU
Das Individuum Klein7 aus dem Fundort Kleinhadersdorf im niederösterreichischen Weinviertel, dessen ...
BDA/Christine Neugebauer-Maresch
Criteria of this press release:
Journalists
Biology, Cultural sciences, Environment / ecology, History / archaeology
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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