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Wissenschaft
Neue Analyse des IMK
Datencheck entkräftet „Mär vom aufgeblähten deutschen Staat“ – unauffällige Entwicklung im internationalen und historischen Vergleich
Anders als bisweilen behauptet, sind die Staats- und Sozialausgaben in Deutschland weder im internationalen noch im historischen Vergleich besonders hoch – und zuletzt auch keineswegs stark gewachsen. Das zeigt eine neue Datenanalyse des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.*
„Wer von einem ungebremst wachsenden Sozialstaat spricht, oder davon, dass der Staat generell immer weiter aufgebläht werde, verbreitet eine Mär, die nicht durch Fakten gedeckt ist“, fasst Prof. Dr. Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des IMK, das Fazit der Untersuchung zusammen.
Nicht selten fußten alarmistische Diagnosen auf untauglichen Daten, erklären Dullien und seine Ko-Autorin, IMK-Fiskalexpertin Dr. Katja Rietzler. So wiesen Vertreter*innen der These eines zu großen (Sozial-)staates gerne darauf hin, dass die öffentlichen Ausgaben und die Sozialausgaben immer neue „Rekorde“ erreichten. Ein Problem mit diesem Argument ist, dass „Rekorde“ bei nominalen Geldbeträgen nicht viel aussagen. Preise und Einkommen steigen jedes Jahr, so dass immer neue „Rekorde“ bei Einnahmen und Ausgaben ganz normal sind. „Wenn etwa die Einkommen der Beschäftigten zulegen, ist es ganz normal, dass auch etwa die Rentenzahlungen zulegen – denn diese sollen ja einen gewissen Anteil der Einkommen absichern“, schreiben die Forschenden.
Relevant für die Analyse, ob ein Staat wirklich „übermäßig“ wächst, sind deshalb andere Kennzahlen: Das preisbereinigte (reale) Wachstum der Ausgaben, das Wachstum relativ zur Wirtschaftsleistung oder relativ zu den Ausgaben in anderen, vergleichbaren Staaten. Solche Größen betrachten Dullien und Rietzler in ihrer Untersuchung anhand der aktuellsten verfügbaren Daten.
– Drittniedrigster Zuwachs bei den öffentlichen Sozialausgaben –
Im Vergleich mit anderen Industrieländern zeigt sich, dass das Wachstum der realen öffentlichen Sozialausgaben in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren unauffällig gewesen ist: Unter 27 Ländern der Industriestaatenorganisation OECD, für die die aktuellsten Daten von 2002 bis 2022 verfügbar sind, liegt Deutschland mit einem Zuwachs von 26 Prozent für den gesamten Zeitraum auf dem drittletzten Platz, ist also eines der Länder mit dem geringsten Wachstum. Weit vorne rangieren dagegen etwa Neuseeland, wo die realen Sozialausgaben um 136 Prozent zugelegt haben, Irland (130 Prozent), Polen (126 Prozent) oder Australien (96 Prozent). Aber beispielsweise auch die USA mit 83 Prozent Zunahme, Kanada mit 73 Prozent, Spanien mit 65 Prozent, die Schweiz mit 64 Prozent, Großbritannien mit 59 Prozent oder Schweden mit 47 Prozent weisen ein deutlich höheres Wachstum der Sozialausgaben auf als die Bundesrepublik (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten).
Mögliche Einwände gegen diesen Vergleich haben Dullien und Rietzler auch gleich systematisch überprüft: Erstens wäre ja denkbar, dass Deutschland schon vor 20 Jahren einen im internationalen Vergleich aufgeblähten Sozialstaat gehabt hätte und deshalb trotz schwachen Ausgabenwachstums heute noch überproportional viel Geld dafür aufwendet. Doch auch dafür gibt es keinen Hinweis. Denn beim Anteil der staatlichen Sozialausgaben an der Wirtschaftsleistung ist Deutschland im Vergleich der reichen OECD-Länder in Westeuropa und Nordamerika ebenfalls unauffällig. Mit 26,7 Prozent, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), liegt die Quote im oberen Mittelfeld, Deutschland auf Rang sieben von 18 (Abbildung 2 in der pdf-Version).
– Bei Gesamtausgaben fürs Soziale liegen die USA knapp vor Deutschland –
Zweiter möglicher Einwand: Zwar sind die BIP-Anteile für staatliche Sozialleistungen in den meisten Vergleichsländern ähnlich hoch oder größer als in Deutschland. Auf den ersten Blick fallen aber die Schweiz, die Niederlande und die USA ins Auge, wo die Statistik spürbar weniger für öffentliche Sozialleistungen ausweist – die Quoten liegen zwischen 17 und gut 18 Prozent. Diese Zahlen sind aber ein statistisches Artefakt – und ein gutes Beispiel dafür, was man bei solchen Vergleichen berücksichtigen muss.
Denn in den drei Ländern ist eine private Krankenversicherung weitgehend verpflichtend. Dabei herrscht nicht freier Markt oder starker Wettbewerb zwischen den Versicherungen, nur die Organisationsform ist privat. Ob man verpflichtend in einer gesetzlichen Krankenkasse oder verpflichtend in einer Privatversicherung versichert ist, macht gesamtwirtschaftlich (und auch für die einzelnen Versicherten) keinen Unterschied, es schlägt sich aber in der Statistik nieder, die so nur eingeschränkt vergleichbar ist. Nimmt man daher öffentliche, vom Staat vorgeschriebene und freiwillige Ausgaben für Soziales zusammen (auch in Deutschland gibt es ja private Krankenversicherungen), so liegen die USA und die Niederlande mit Gesamtquoten am BIP von je 30,7 Prozent sogar geringfügig vor Deutschland (30,4 Prozent), während die Schweiz auf 28,6 Prozent kommt. Insgesamt rangiert die Bundesrepublik auch in dieser Betrachtungsweise auf Position sieben im internationalen Vergleich (Abbildung 3).
Eine weitere zentrale Größe ist die Staatsquote, also die gesamten staatlichen Ausgaben einschließlich der Sozialausgaben im Verhältnis zum BIP. Auch hier ist laut der IMK-Analyse im westeuropäischen Vergleich bis 2023 keine Auffälligkeit für Deutschland festzustellen. Mit einem BIP-Anteil von 48,2 Prozent ist die Staatsquote in Deutschland sogar geringfügig niedriger als im Durchschnitt der EU-Länder (48,9 Prozent, Abbildung 4 in der pdf-Version; aktuelle Daten auf vergleichbarer Basis für außereuropäische Länder leider nicht verfügbar).
Gleiches gilt, wenn man die Staatsquote im Zeitverlauf betrachtet: Es gibt keine Besonderheiten, wenn man andere Länder zum Vergleich heranzieht: Seit Mitte der 1990er Jahre liegt der Wert an oder leicht unter dem Durchschnitt des Euroraums (Abbildung 5). Im Vergleich zur jüngeren Vergangenheit war das Niveau der Staatsausgaben 2023 zwar leicht erhöht, aber das lässt sich dadurch erklären, dass die öffentlichen Haushalte 2023 noch durch die Hilfspakete im Zuge der Energiepreiskrise nach der russischen Invasion in der Ukraine und durch Unterstützung der Ukraine und der Geflüchteten belastet waren, so die Forschenden.
– Die öffentliche Beschäftigung ist gewachsen – aber Bevölkerung und Aufgaben auch –
Auch einen letzten beliebten Kritikpunkt, den konservative oder liberale Befürworter*innen eines „schlanken Staats“ nennen, haben Dullien und Rietzler einem Faktencheck unterzogen. Diese weisen gerne darauf hin, dass die öffentliche Beschäftigung in Deutschland spürbar gestiegen sei. Zum Teil werde dabei sogar behauptet, der Staat nehme den Unternehmen die Beschäftigten weg.
Tatsächlich, so die Fachleute des IMK, sind in einzelnen Bereichen des öffentlichen Dienstes heute absolut mehr Menschen beschäftigt als vor 15 Jahren. Allerdings ist auch hier der Kontext entscheidend, um aussagefähige Vergleiche anstellen zu können. So muss man beachten, dass die Bevölkerung – und auch die Gesamtbeschäftigung – in Deutschland in den vergangenen Jahren spürbar gewachsen ist. Und mehr Einwohner*innen und eine wachsende Erwerbstätigkeit bedeuten natürlich, dass man beispielsweise mehr Fachkräfte in Kitas, mehr Lehrer*innen, mehr Polizist*innen oder mehr Personal in Bau- oder Meldeämtern braucht.
Erhellend ist daher der Blick auf die öffentliche Beschäftigung im Vergleich zur Gesamtbeschäftigung. Dullien und Rietzler haben dazu Zahlen der OECD im Zeitverlauf ausgewertet. Sie zeigen, dass zumindest bis 2019 – neuere Zahlen sind noch nicht verfügbar – der Anteil öffentlicher Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung in Deutschland im Trend sogar gefallen ist (Abbildung 6). „Auch hier ist von einem Aufblähen nichts zu sehen“, betonen die Forschenden.
Mit gut 10,6 Prozent lag die Quote in der Bundesrepublik 2019 mehr als sieben Prozentpunkte niedriger als im Durchschnitt der OECD-Länder. Dullien und Rietzler wollen mit diesem großen Unterschied zwar nicht argumentieren, weil wegen der unterschiedlichen Organisation etwa des Gesundheitssystems das Niveau zwischen Ländern nur begrenzt vergleichbar sei. Deutlich werde aber auf jeden Fall, „dass im internationalen Vergleich der Anteil öffentlicher Beschäftigung in Deutschland ebenfalls nicht besonders hoch ist.“
Und was ist mit den Kosten fürs Personal? Auch hier sehen die Forschenden des IMK keinen Anlass für Alarmismus: Ein Blick auf die Entwicklung der staatlichen Arbeitnehmerentgelte in der Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die bis 2023 vorliegen, zeigt relativ zum Bruttoinlandsprodukt ebenfalls keine besondere Dynamik. Nach einem Rückgang in den 1990er Jahren ist die Quote seit über einem Jahrzehnt sehr stabil und pendelt um die acht Prozent (Abbildung 7 in der Kurzstudie). Anstiege gab es 2009 und 2020. Doch die haben nichts mit drastisch gestiegenen Ausgaben zu tun, sondern sie erklären sich jeweils mit dem Rückgang des nominalen BIPs während der Weltfinanzkrise und der Corona-Pandemie. Und „sie haben sich schnell wieder normalisiert“, schreiben die Fachleute.
Kontakt in der Hans-Böckler-Stiftung
Prof. Dr. Sebastian Dullien
Wissenschaftlicher Direktor IMK
Tel.: 0211-7778-331
E-Mail: Sebastian-Dullien@boeckler.de
Dr. Katja Rietzler
IMK-Expertin für Fiskalpolitik
Tel.: 0211-7778-576
E-Mail: Katja-Rietzler@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de
https://www.imk-boeckler.de/de/faust-detail.htm?sync_id=HBS-008801 - *Sebastian Dullien, Katja Rietzler: Die Mär vom ungebremst wachsenden deutschen Sozialstaat, IMK Kommentar Nr. 11, Februar 2024.
https://www.boeckler.de/pdf/pm_imk_2024_02_15.pdf - Die PM mit Abbildungen (pdf)
http://rainer-jung@boeckler.de - Hinweis an die Redaktionen: Die Daten der verschiedenen Abbildungen schicken wir Ihnen gerne auf Anfrage
Criteria of this press release:
Journalists, all interested persons
Economics / business administration, Politics, Social studies
transregional, national
Research results, Science policy
German
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