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08/30/2024 15:01

Unstatistik des Monats: Statistische Demenz

Sabine Weiler Kommunikation
RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung

    Sowohl die Schätzung aktueller als auch die Prognose zukünftiger Demenzfälle in Bayern sind fast sicher falsch, zudem sind beide Zahlen alles andere als aktuell. Die "Unstatistik des Monats" zeigt, warum solchen Zahlen stets eine große Unsicherheit innewohnt.

    Die Unstatistik des Monats August ist der Umgang von Politikern und Medien mit der Prognose zukünftiger Demenzfälle in Bayern. „Ministerin Gerlach rechnet bis 2030 mit 300.000 Demenzkranken“, titelte die Süddeutsche Zeitung am 25. August auf Grundlage einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Derzeit sollen in Bayern rund 270.000 Demenzkranke leben, bis 2040 werde ihre Zahl voraussichtlich bis auf 380.000 steigen. Auch N-TV und STERN.de brachten ähnliche Meldungen; beim Bayerischen Rundfunk hieß es: „Demenzfälle nehmen zu“ und das Ärzteblatt berichtet ebenfalls von „steigenden Zahlen“.

    „Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen“, soll Winston Churchill gesagt haben, vielleicht waren es aber auch George Bernard Shaw oder Niels Bohr. Genau weiß man es nicht. Auch die Prognose der Demenzfälle ist höchst unsicher, und das nicht nur, weil sie in die Zukunft gerichtet ist. Selbst die aktuelle Zahl Demenzkranker in Bayern kennt niemand, nicht einmal die bayerische Gesundheitsministerin Judith Gerlach. Genauso wenig kannte sie ihr Vorgänger, Klaus Holetschek, der gleichwohl schon im Februar 2023 verkündete: „In Bayern leben nach neuesten Zahlen zirka 270.000 Menschen mit Demenz.“ 18 Monate später ist diese Zahl unverändert – wie kann das sein?

    Tatsächlich handelt es sich nur um eine grobe Schätzung, die schon aus dem April 2022 stammt und sich auf das Jahr 2021 bezieht. Einzelheiten dazu finden sich im Gesundheitsreport „Update Demenzerkrankungen“ des Bayerischen Gesundheitsministeriums. Um auf die Zahl 270.000 zu kommen, multipliziert man die in Bayern lebenden Menschen mit der jeweils relativen Häufigkeit von Demenzerkrankungen, je nach Altersgruppe und Geschlecht. Der Fachbegriff für diese relative Häufigkeit heißt „Prävalenz“. Man kennt zwar die Prävalenz für Bayern nicht, aber es gibt Abschätzungen der Prävalenz für ganz Europa, die die Weltgesundheitsorganisation WHO im Jahr 2021 veröffentlicht hat. Mit dieser einfachen Rechnung kommt man nach dem Prinzip „grob rein – fein raus“ auf 270.000 Demenzkranke, davon 250.000 im Alter über 65 Jahren. Eine Gegenrechnung, die in dem Report vorgenommen wird, nimmt die Zahl der rund 215.000 diagnostizierten Demenzerkrankungen bei den gesetzlichen Krankenversicherungen. Weil, wiederum grob geschätzt, 15 Prozent privat versichert sind – eine Differenzierung nach Altersgruppen und Geschlecht wird hier nicht vorgenommen – ergeben sich insgesamt etwa 252.000 Fälle, ein gemäß dem Report „ähnliches Ergebnis“.

    Die Prognose stützt sich nun auf die Rate der jährlichen Neuerkrankungen, die sogenannte „Inzidenz“. Mithilfe einer Bevölkerungsprognose versucht man abzuschätzen, wie viele Männer und Frauen in welcher Altersgruppe in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in Bayern leben, und nimmt an, dass davon anteilig zukünftig exakt so viele an Demenz erkranken wie bisher. Die prognostizierten Verstorbenen werden abgezogen und am Ende steht eine scheinbar präzise Zahl: 380.000 Fälle im Jahr 2040.

    Das Problem dabei ist nicht nur, dass die Bevölkerungsprognose unsicher ist; daher sprechen die amtlichen Statistiker auch nicht von „Prognosen“, sondern von „Modellrechnungen“. In diesen Modellrechnungen stecken zahlreiche Annahmen, die zutreffen können oder auch nicht. Solche Annahmen betreffen beispielsweise die Zu- und Fortzüge, die Zahl der Geburten oder der Todesfälle. Das Statistische Bundesamt kommt durch Variation solcher Annahmen auf einen Unterschied von immerhin einer Million Einwohnern, die Bayern im Jahr 2040 mehr oder weniger haben könnte.

    Aber auch die Frage, wie viele dieser Menschen bis dahin an Demenz erkranken, ist alles andere als sicher zu beantworten. Der Gesundheitsreport erwähnt dieses Problem auch: „Studien deuten jedoch darauf hin, dass die Demenzerkrankungen möglicherweise weniger stark zunehmen (Roehr et al. 2018).“ Bemerkenswerterweise findet sich dieser Satz wortwörtlich schon im „Gesundheitsreport 9/2019 – Update Demenzerkrankungen“, nur waren es dort noch „neuere Studien“. Schon der 2019-er Report prognostiziert für das Jahr 2030 rund 300.000 Demenzfälle. Allerdings lag die Schätzung für die Zahl der damals aktuellen Fälle bei 240.000 über 65-Jährigen, also 10.000 Fälle weniger als „heute“, oder genauer gesagt im Jahr 2022. Eine noch ältere – in der „Bayerischen Demenzstrategie“ zitierte – Prognose des Bayerischen Gesundheitsministeriums war im Jahr 2015 auf 270.000 Fälle schon im Jahr 2020 und 340.000 Fälle im Jahr 2032 gekommen.

    Sowohl die Schätzung als auch die Prognose sind fast sicher falsch, und dazu sind beide Zahlen alles andere als aktuell. Dass die Zahl der Demenzfälle etwas zugenommen hat, dürfte wahrscheinlich sein, aber das liegt schlicht daran, dass die bayerische Bevölkerung wächst und altert. Leider scheint es vielen Medien entweder an der Kompetenz oder am Willen zu fehlen, Prognosen kritisch zu hinterfragen und insbesondere auf die große Unsicherheit hinzuweisen, die solchen Zahlen stets innewohnt. Nicht unschuldig daran ist in diesem Fall auch das Bayerische Gesundheitsministerium, das zwar andeutet, dass die Annahmen seiner Modellrechnung möglicherweise falsch sind, aber keinen Versuch unternimmt, die resultierenden Unschärfen zu quantifizieren.

    Wie groß solche Unschärfen sein können, zeigt am Beispiel der Zuckersteuer eine kürzlich veröffentlichte Simulationsstudie mit dem sperrigen Titel „The implications of policy modeling assumptions for the projected impact of sugar-sweetened beverage taxation on body weight and type 2 diabetes in Germany“. Eine Vorgängerstudie der gleichen Autoren hatte mit der Kommunikation einer einzelnen Zahl („Zuckersteuer könnte bis zu 16 Milliarden Euro einsparen“) ein großes Medienecho hervorgerufen. In ihrer neuen Veröffentlichung zeigen die Autoren nun auf, wie extrem stark die simulierten Auswirkungen einer Zuckersteuer auf das Übergewicht in Deutschland von den Modellannahmen abhängen. Anders als für diese Schock-Zahl 16 Milliarden, hat sich aber für die damit verbundene Unsicherheit anscheinend noch kein einziges Medium interessiert.


    Contact for scientific information:

    Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447


    Original publication:

    https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik/detail/st... - hier steht die Pressemitteilung auf der RWI-Homepage mit weiterführenden Links


    More information:

    https://www.rwi-essen.de/presse/wissenschaftskommunikation/unstatistik


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    Criteria of this press release:
    Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students, Teachers and pupils, all interested persons
    interdisciplinary
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications
    German


     

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