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Wissenschaft
Am 30. August 2024 hat die European Society of Cardiology (ESC) neue Bluthochdruck-Leitlinien auf ihrem Jahreskongress in London vorgestellt. Sie definieren bereits leicht erhöhten Blutdruck unter bestimmten Bedingungen als behandlungswürdig und könnten perspektivisch zu einer deutlichen Reduktion der Inzidenz schwerer kardiovaskulärer Erkrankungen führen. Die Empfehlungen reflektieren ein Umdenken in Richtung präventive Medizin. Herausforderung bleibt, dafür die notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung herzustellen und entsprechende Versorgungsstrukturen zu schaffen.
Die neuen Hypertonie-Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) [1] nehmen die Gefahren von leicht bis moderat erhöhten Blutdruckwerten in den Blick und unterstreichen deutlicher als alle anderen Hypertonie-Leitlinien zuvor die Notwendigkeit einer frühen und strikteren Intervention. Das zeigt sich bereits in ihrem Titel. Lautete dieser bisher „Leitlinien zur Behandlung von arterieller Hypertonie“, sind es nun die „Leitlinien zur Behandlung von erhöhtem Blutdruck und Hypertonie“. Damit wird klar, dass nicht erst eine manifeste Bluthochdruckerkrankung (arterielle Hypertonie), die auch in dieser Leitlinie mit einem Schwellenwert von ≥140/90 mmHg definiert wird, diagnose- und therapiewürdig erscheint, sondern bereits Vorstadien. „Das ist sinnvoll“, erläutert Prof. Dr. Markus van der Giet, Vorsitzender der Deutschen Hochdruckliga, „denn wir wissen, dass auch schon Werte von 120–139 mmHg systolisch und 70–89 mmHg diastolisch mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen einhergehen. Je nach individueller Risikokonstellation kann auch dann schon ein früherer Einsatz der Therapie erforderlich sein.“
Neues dreistufiges Diagnoseverfahren identifiziert Betroffene, die eine medikamentöse Therapie benötigen
Die neuen ESC-Leitlinien geben Ärztinnen und Ärzten konkrete Handlungsanweisungen an die Hand, um die schädigenden Auswirkungen des Risikofaktors Bluthochdruck auf Herz und Gefäße zu minimieren. Während bisher Patientinnen und Patienten mit Werten zwischen 120–139/70–89 mmHg quasi als „gesund“ galten und von der Ärztin/dem Arzt bestenfalls eine Empfehlung zu einer gesünderen Lebensweise mit auf den Weg bekamen, empfiehlt nun die ESC-Leitlinie ein dreistufiges „Diagnose-Vorgehen“, um abzuklären, ob die Patientin/der Patient vielleicht nicht doch schon einer blutdrucksenkenden medikamentösen Therapie bedarf:
1. Abfrage, ob etablierte Risikofaktoren vorliegen: Damit sind vor allem kardiovaskuläre oder renale Vorerkrankungen gemeint. Wer z. B. bereits einen Schlaganfall hatte, bedarf auch bei Blutdruckwerten vor allem ab 130 – 139 mmHg einer blutdrucksenkenden Therapie. Menschen, die keine etablierten Risikofaktoren haben, gehen in die nächste diagnostische Stufe.
2. Abschätzung des individuellen kardiovaskulären 10-Jahres-Risikos. Dafür gibt es spezielle Punktescores (Score2 für Menschen im Alter von 40 – 69 Jahren bzw. Score2-OP für Menschen ≥70 Jahre), die anhand von Fragebögen errechnet werden und das Risiko beziffern. Beide bilden die Basis eines Online-Score-Rechners, der auch in deutscher Sprache zur Verfügung steht [2]. Die Empfehlung der Leitlinie lautet: Beträgt das Risiko ≥10%, ist eine blutdrucksenkende Therapie vor allem ab 130 – 139 mmHg notwendig. Liegt das Risiko unter 5%, ist keine Therapie erforderlich. Bei Menschen, deren Risiko zwischen 5 und 10% liegt, wird die dritte diagnostische Stufe angeschlossen.
3. Einschätzung, ob allgemeine oder geschlechtsspezifische Risikofaktoren vorliegen. Dazu zählen z. B. Ethnizität, Familiengeschichte für kardiovaskuläre Ereignisse, sozio-ökonomische Faktoren, Autoimmunerkrankungen, HIV oder auch schwere geistige Erkrankungen sowie Schwangerschaftsdiabetes, Schwangerschaftshypertonie, Präeklampsie, Frühgeburten oder Fehlgeburten in der Vorgeschichte.
„Dieser Algorithmus ist praxisnah und handhabbar, bedeutet aber auch, dass wir mehr Zeit für die Diagnosestellung, Beratung und Versorgung der vielen Menschen benötigen, die mit erhöhten Blutdruckwerten in die Praxis kommen, aber noch keinen manifesten Bluthochdruck haben. Bei diesen Patientinnen und Patienten haben wir bislang keine weitere Diagnostik etabliert“, betont van der Giet.
Präventive Medizin fordert Umdenken und veränderte Versorgungsstrukturen
Vor dem Hintergrund, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen die Todesfallstatistiken anführen [3], zeigt die neue ESC-Leitlinie, wie „präventive Medizin“ in Bezug auf Bluthochdruck in der Praxis optimal aussehen könnte. „Die flächendeckende Umsetzung der Empfehlungen im klinischen Alltag kann perspektivisch zu einer deutlichen Reduktion der Inzidenz schwerer kardiovaskulärer Erkrankungen führen“, so van der Giet. Eine frühzeitige Diagnostik und Therapie von Bluthochdruck als Prävention kann spätere Schäden und damit Leid verhindern und ist außerdem eine nachhaltige Option, auch, um den steigenden Kosten im Gesundheitssystem zu begegnen. Für eine flächendeckende Umsetzung benötigt es aber ein gesellschaftliches Umdenken. Betroffene müssten von der Notwendigkeit präventiver Maßnahmen überzeugt werden. „Wir benötigen gezielte Öffentlichkeitsarbeit und breit angelegte Kampagnen, um das Verständnis für präventive Maßnahmen, die u. U. auch die Einnahme von Tabletten erforderlich machen, um Erkrankungen wie Schlaganfälle oder Herzinfarkten vorzubeugen, in die Breite zu tragen und im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Hier werden wir alles tun, um unseren Beitrag zu leisten und hoffen auch auf fortgesetzte politische Unterstützung“, so der Vorsitzende der Deutschen Hochdruckliga abschließend. Die Wichtigkeit dieses Anliegens und einen ersten entscheiden Schritt sieht die Hochdruckliga im Entwurf des „Gesundes-Herz-Gesetz“ verankert.
Quellen
[1] https://academic.oup.com/eurheartj/advance-article/doi/10.1093/eurheartj/ehae178...
[2] http://scores.bnk.de/score2--2021-.html
[3] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/158441/umfrage/anzahl-der-todesfa...
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