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Wissenschaft
Ein internationales Team von Forschenden hat die Auswirkungen der Windenergie auf Umwelt, Gesellschaft, Wirtschaft und Recht untersucht. Russell McKenna, Experte für Energiesystemanalyse, erzählt im Interview, wo er den grössten Handlungsbedarf sieht, um die Windenergie weiterzuentwickeln.
ETH-News: Worum geht es in der Studie und was ist ihre Kernaussage?
Russell McKenna: Die Studie befasst sich mit den Auswirkungen der Windenergie auf die Systeme, in die sie eingebettet ist, seien es Umwelt- und Klimasysteme, sozioökonomische, technoökonomische oder politisch-rechtliche Systeme. Wir haben uns den aktuellen Stand der Forschung angesehen und versucht zu unterscheiden, wo das Bild relativ klar ist und wo es Herausforderungen gibt, die (immer noch) überwunden werden müssen. So haben wir insgesamt 14 Auswirkungen definiert, um aufzuzeigen, wo die Forschungsprioritäten liegen sollten, um einige dieser Herausforderungen zu überwinden.
Um welche Auswirkungen geht es konkret, können Sie Beispiele nennen?
Im Bereich Umwelt und Klima geht es beispielsweise um die Auswirkungen von Windparks auf das lokale Klima oder um das End-of-Life-Szenario von Rotorblättern, die nicht recycelt werden können. Bei den sozioökonomischen Systemen haben wir unter anderem lokale Kosten und Nutzen von Windkraftanlagen identifiziert. Beim politisch-rechtlichen System geht es beispielsweise um die Frage, was passiert, wenn die Lieferkette aus geopolitischen Gründen unterbrochen wird.
Wie sind Sie vorgegangen, um diese insgesamt 14 Auswirkungen der Windenergie zu identifizieren?
Was ich zum Hintergrund sagen möchte: Wir sind 24 Co-Autor:innen aus verschiedenen Institutionen, die fast alle an einem dreijährigen Projekt namens WIMBY beteiligt sind, das von der Europäischen Kommission finanziert wird. WIMBY steht für «Wind In My Backyard». Im Rahmen dieses Projekts wollten wir eine ganzheitliche Analyse der Windenergie durchführen und, eine Bestandsaufnahme der unterschiedlichen Auswirkungen der Windenergie auf verschiedene Systeme zu erstellen. Wir haben eine umfassende Literaturrecherche durchgeführt. Insgesamt haben wir über 400 Studien ausgewertet und konnten so den aktuellen Stand der Forschung und die prioritären Forschungsthemen herausfiltern.
Welches Ergebnis hat Sie am meisten überrascht?
Es gab einige Ergebnisse, bei denen wir festgestellt haben, dass sie nicht dem allgemeinen Wissen entsprechen. Ein Beispiel ist der Infraschall, der tieffrequente Lärm, der oft als Problem für die Bevölkerung genannt wird, weil er zu Irritationen führen und sogar Gegenstände in Häusern zum Vibrieren bringen kann. In der Forschung gibt es jedoch nur eine uns bekannte Studie, die eine bestimmte Windkraftanlage untersucht hat, und das war vor etwa drei Jahrzehnten, als gerade die ersten Prototypen gebaut wurden. Bei den heutigen Anlagen ist kein Zusammenhang mit tieffrequentem Lärm mehr nachweisbar, das ist aber noch nicht in das allgemeine Wissen eingedrungen.
Apropos Windturbinen: Bis 2030 müssen rund 60 000 Anlagen ersetzt werden, deren Rotorblätter nicht recycelt werden können. Welche Ansätze gibt es, um dieses Problem in der nächsten Generation zu vermeiden?
Ein Problem beim Recycling von Rotorblättern stellt das Faserbindemittel dar. Da duroplastische Kunststoffe wie Epoxidharz oder Polyester nicht schmelzen, ist eine Rückgewinnung der Glasfasern kaum möglich. Daher werden die meisten Rotorblätter derzeit zerkleinert und auf Deponien oder inoffiziellen «Zwischenlagern» entsorgt. Technologien wie die Pyrolyse (thermochemische Behandlung ohne Sauerstoff) können zur Rückgewinnung der Blattfasern beitragen. Die Qualität des zurückgewonnenen Materials und der sehr niedrige Marktpreis des neuen Materials machen diese Option jedoch wirtschaftlich unattraktiv. Bei neueren Rotorblättern sieht die Situation besser aus, da die grossen Hersteller jetzt ein Harz verwenden, das sich am Ende der Lebensdauer auflöst, so dass die Fasern in 20 Jahren leichter wiedergewonnen werden können. Es wird also eine Kombination von Ansätzen verfolgt, um möglichst viel Material in den Kreislauf zurückzuführen. Letztlich sind solche Belastungen immer gegen die positiven Nebeneffekte des Windenergieausbaus abzuwägen – einer davon ist die Abkehr von fossilen Energieträgern.
Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf?
Es liegt auf der Hand, dass die Akzeptanz von Windkraftanlagen in der Bevölkerung entscheidend ist, da sie das Landschaftsbild prägen. Eine ähnliche Situation haben wir seit Jahrzehnten mit der bestehenden Netzinfrastruktur. Die Menschen wollen, dass der Strom aus der Steckdose kommt und verlassen sich täglich darauf. Das Stromnetz hängt an Masten in der Landschaft, die von den Menschen nicht immer akzeptiert werden. Mit anderen Worten: Menschen wollen die (Energie-)Dienstleistung, aber das «Problem» der Auswirkungen soll woanders liegen.
Ähnlich verhält es sich mit Windturbinen: Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist generell hoch, beispielsweise befürworten 60 Prozent der Schweizer Bevölkerung Windkraftanlagen im zukünftigen Strommix, aber auf lokaler Ebene gibt es oft Widerstand. Es hat sich gezeigt, dass die Akzeptanz für Windturbinen steigt, wenn die Gemeinde davon profitiert, zum Beispiel durch eine finanzielle Beteiligung am Projekt oder wenn Arbeitsplätze für die lokale Wirtschaft geschaffen werden. Dabei geht es nicht nur um technische Arbeitsplätze – Windparks können auch attraktive Standorte für den Tourismus sein.
Generell muss in der Bevölkerung noch viel Aufklärungsarbeit über die jeweiligen Vor- und Nachteile der Windenergie geleistet werden. Bei allen Energietechnologien ist immer ein Kompromiss notwendig, und es ist unvernünftig, sich auf die Nachteile einer Technologie zu konzentrieren, ohne die Alternativen zu berücksichtigen.
Welche Themen der Studie sind für die Schweiz besonders relevant?
Fast alle identifizierten Themen sind auch für die Schweiz relevant – die Offshore-Windanlagen können wir wohl ausklammern. In der techno-ökonomischen Kategorie betrachten wir beispielsweise, wie sich die Windenergie mit Massnahmen zur Speicherung, Flexibilität, Netzverbesserung und Sektorkopplung in das Energiesystem integriert. Die Schweiz hat den Vorteil, dass ihr System historisch stark auf erneuerbare Energien ausgerichtet ist, fast zwei Drittel der Elektrizitätsversorgung stammt aus Wasserkraft. Auf dieser Erfahrung und Expertise kann man mit grossen Mengen nicht-steuerbarer Stromerzeugung aufbauen. Wir brauchen auch integrierte Energiesysteme, wie sie die Schweiz mit einigen ihrer Nachbarländer bereits hat. Eine stärkere Marktintegration wird jedoch von den noch ausstehenden Abkommen mit der EU abhängen.
Ein weiterer Punkt, den ich hervorheben möchte, ist die Widerstandsfähigkeit der Versorgungsketten gegenüber geopolitischen Entwicklungen. Meines Wissens gibt es keine Schweizer Hersteller von Windrädern. Dies ist ein Risiko, denn wir müssen die Technologie importieren. Während wir also durch die inländische Versorgung mit erneuerbaren Energien mehr Energieunabhängigkeit erreichen, erhöhen wir die Abhängigkeit von Technologieimporten.
Was ist Ihr persönliches Highlight oder etwas Positives, das Sie hervorheben möchten?
Ich bin stolz auf die Tabelle in der Studie. Sie ist ein Destillat aus den über 400 wissenschaftlichen Studien und gibt einen umfassenden und prägnanten Überblick. Wir haben Forschungsprioritäten festgelegt und in einigen wenigen Stichpunkten mögliche Lösungen aufgezeigt.
Die Tabelle kann auch als Grundlage für politische Entscheidungsträger:Innen dienen, um die wichtigsten Herausforderungen bei der Beschleunigung des Windkraftausbaus anzugehen. Zusätzlich zeigen wir in der Tabelle, ob die Auswirkungen stark vom Standort der Windenergieanlage abhängen. Ist die Abhängigkeit hoch, sind die Auswirkungen der Windenergie je nach Standort sehr unterschiedlich; andere Auswirkungen sind räumlich eher homogen.
Wie geht es weiter?
Nach fast zwei Jahren Arbeit an dieser Studie können wir nun in die Zukunft blicken. Die laufenden Arbeiten im Rahmen von WIMBY werden dazu beitragen, viele der Herausforderungen zu bewältigen. Zum Beispiel entwickeln wir eine europaweite Karte der Landschaftsqualität in Form der sogenannten «Scenicness». Basierend auf Crowdsourcing-Daten aus Grossbritannien haben wir ein maschinelles Lernmodell entwickelt, um diesen Parameter mit anderen räumlichen Merkmalen wie Entfernung, Grad des menschlichen Einflusses und Landnutzungskategorien zu verknüpfen. Das bedeutet, dass wir solche Indikatoren für Regionen schätzen können, für die keine Daten verfügbar sind. Das Ergebnis ist zwar unvollkommen, aber es hilft, die Qualität von Landschaften auf europäischer Ebene zu messen, so dass wir diese Faktoren bei der Planung von Windparks berücksichtigen können. Ein wichtiges Ergebnis von WIMBY werden interaktive Karten sein, die es Nutzer:Innen ermöglichen, alle Arten von Daten für jeden beliebigen Standort in Europa zu erforschen und die Machbarkeit und die Auswirkungen potenzieller Windparks zu analysieren.
Haben Sie abschliessende Bemerkungen?
Ich möchte betonen, dass ich die Windenergie in keiner Weise einer anderen Technologie vorziehe. Aber ich bin ein Wissenschaftler, der interdisziplinär über Energietechnologien und -systeme forscht. Diese Forschung zeigt, dass alle diese Technologien Vor- und Nachteile in einer Vielzahl von Wirkungskategorien haben. Leider neigt die Diskussion über die Energiewende dazu, sich auf bestimmte Vor- oder Nachteile zu konzentrieren und andere zu ignorieren. Diese und andere Studien haben einige der «Mythen» rund um die Windenergie entlarvt und sie von den tatsächlichen Auswirkungen und Forschungsherausforderungen abgegrenzt. Es ist wichtig, dass alle Beteiligten, einschliesslich der Öffentlichkeit, das «Gesamtbild» vor Augen haben, wenn sie zwischen verschiedenen Energietechnologien abwägen.
McKenna R, Lilliestam J, Heinrichs H et. al. System impacts of wind energy developments: key research challenges and opportunities. Joule (2024), DOI: 10.1016/j.joule.2024.11.016
https://cms-author.ethz.ch/cf#/content/main/de/news-und-veranstaltungen/eth-news...
Criteria of this press release:
Journalists
Energy, Oceanology / climate
transregional, national
Research results
German
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