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Wissenschaft
Proteine sind für nahezu allen biologischen Prozesse entscheidend, ihre Wechselwirkungen vorherzusagen und Proteine mit neuen Funktionen zu entwerfen ist jedoch eine große Herausforderung. In einer neuen Studie, die in "Nature" veröffentlicht wurde, haben Forschende der EPFL in Lausanne und von AITHYRA (ÖAW) in Wien erfolgreich KI-Techniken eingesetzt, um neu gebildete, sog. „Neo-Oberflächen“ von Proteinen, die nach der Bindung kleiner Wirkstoffmoleküle entstehen, rechnerisch vorherzusagen und künstliche Proteine zu entwickeln, die an diese Neo-Oberflächen binden können. Die Ergebnisse wurden experimentell bestätigt und könnten die Entwicklung künftiger Präzisionsmedikamente beschleunigen.
Proteine sind die Grundlage allen Lebens, wie wir es kennen. Dank ihrer nahezu unbegrenzten Vielfalt können sie eine Vielzahl biologischer Funktionen erfüllen, von der Sauerstoffversorgung der Zellen und der Funktion als chemische Botenstoffe bis hin zur Abwehr von Krankheitserregern. Zudem sind die meisten biochemischen Reaktionen nur durch Enzyme möglich, eine spezielle Art von Proteinkatalysatoren.
Die molekulare Oberfläche von Proteinen ist entscheidend für ihre Funktion - sei es das Andocken kleiner Moleküle oder anderer Proteine oder das Anstoßen chemischer Reaktionen. Ähnlich wie ein Schlüssel nur in ein bestimmtes Schloss passt und es öffnet, interagieren Proteine oft ausschließlich mit einer einzigen molekularen Struktur, die präzise zu ihrer Oberfläche passt.
Dieses Prinzip wird in der Medikamentenentwicklung genutzt: Wirkstoffmoleküle werden so gestaltet, dass sie an bestimmte Proteine binden, deren Oberfläche verändern und somit ihr Verhalten beeinflussen. Die neu entstandene „Neo-Oberfläche“ kann wiederum neue Wechselwirkungen mit anderen Proteinen eingehen. Auf diese Weise können etwa zwei verschiedene Proteine, die sonst nicht miteinander interagieren würden, zusammengebracht werden. Moleküle, die so eine Interaktion bewirken, werden „molekulare Klebstoffe“ genannt. Sie sind eine vielversprechende Strategie zur Behandlung von Krankheiten, da man mit ihnen krankheitsverursachende Proteine inaktivieren oder abbauen kann.
Neue Proteine mit molekularem Fingerabdruck
Durch eine Spielart der künstlichen Intelligenz, einer sog. „geometrischen Deep-Learning-Architektur“ namens „Molecular Surface Interaction Fingerprinting“ (MaSIF)1 ist ist es Michael Bronstein, dem wissenschaftlichen Direktor von AITHYRA, dem neuen Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW), in langjähriger Zusammenarbeit mit dem Team von Bruno Correia am EPFL-Labor für Immunoengineering und Protein-Design gelungen, neue Proteine mit gewünschten molekularen Oberflächeneigenschaften zu entwerfen2.
In der neuen, in Nature veröffentlichten Studie3 hat das Team MaSIF auf Proteine mit gebundenen Wirkstoffmolekülen angewandt und gezeigt, dass die Methode genutzt werden kann, um Proteine zu entwerfen, die an diese Neo-Oberflächen binden.
„Eine der größten Herausforderungen bei maschinellen Lernansätzen ist ihre Generalisierungsfähigkeit, also wie gut die Methode mit zuvor ungesehenen Daten funktioniert“, erklärt Michael Bronstein. „Eines der überraschenden und erfreulichen Ergebnisse unserer Studie ist, dass ein auf natürliche Proteinwechselwirkungen trainiertes neuronales Netzwerk sehr gut auf Protein-Ligand-Neo-Oberflächen generalisiert, die es noch nie zuvor gesehen hat. Es scheint, dass die durch unsere Methode extrahierten geometrischen Deskriptoren molekularer Oberflächen eine Art ‚universelle Sprache‘ für Proteininteraktionen sind.“
„Der neue Ansatz ermöglicht es uns, steuerbare Proteinwechselwirkungen zu entwerfen“, sagt Bruno Correia. „Wir können neue Proteine entwerfen, die sich nur in Anwesenheit eines kleinen Moleküls an ein Zielprotein binden. Dies eröffnet eine neue Möglichkeit zur präzisen Dosierung und Steuerung biologischer Medikamente, wie sie beispielsweise in der Krebsimmuntherapie eingesetzt werden.“
Virtuelle Ergebnisse im Experiment bestätigt
Die Forschenden bestätigten die Funktionsweise ihrer neuartigen Proteine experimentell an drei mit Medikamenten gebundenen Proteinkomplexen, die das Hormon Progesteron, das von der FDA zugelassene Leukämie-Medikament Venetoclax und das natürlich vorkommende Antibiotikum Actinonin enthalten. Die mit MaSIF entworfenen Proteine erkannten jeden dieser Medikament-Protein-Komplexe mit hoher Affinität. Dies war möglich, weil MaSIF auf allgemeinen Oberflächenmerkmalen basiert, die sowohl für Proteine als auch für kleine Moleküle gelten. So konnten die Merkmale kleiner Moleküle in denselben Deskriptorraum übertragen werden, auf dem MaSIF für Proteine trainiert wurde.
„MaSIF hat mit ca. 70.000 eine relativ kleine Anzahl von Parametern, verglichen mit den Milliarden bei großen Deep-Learning-Systemen wie ChatGPT“, erklärt Arne Schneuing, Doktorand und Co-Autor der Studie. „Das ist möglich, weil wir nur die wichtigsten Oberflächenmerkmale verwenden, was zu einem hohen Abstraktionsgrad führt. Mit anderen Worten: Wir geben dem System nicht das vollständige Bild, sondern nur den Teil, der für die Lösung des Problems relevant ist.“
Der Co-Erstautor Anthony Marchand ist begeistert von den Perspektiven des neuen Ansatzes: „Unsere Idee war, eine Wechselwirkung zu konstruieren, bei der ein kleines Molekül zwei Proteine zusammenbringt. Einige Ansätze konzentrieren sich darauf, solche kleinen Moleküle zu screenen, aber wir wollten ein neuartiges Protein entwerfen, das an einen definierten Protein-Medikament-Komplex bindet. Solche konstruierten, chemisch induzierten Proteinwechselwirkungen haben das Potenzial, das Repertoire zur Erkennung und Steuerung biologischer Prozesse zu erweitern und neue, synthetische biochemische Reaktionsketten in künstlichen Zellen für innovative, medikamentenkontrollierte zellbasierte Therapien zu entwickeln.“
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Zitierte Literatur:
1: P. Gainza et al., Deciphering interaction fingerprints from protein molecular surfaces using geometric deep learning, Nature Methods (2020)
2: P. Gainza et al., De novo design of protein interactions with learned surface fingerprints, Nature (2023)
3: A. Marchand et al., Targeting protein-ligand neosurfaces with a generalizable deep learning tool, Nature (2024)
Bilder im Anhang:
1 Michael Bronstein landscape © Natascha Unkart
2 Michael-Bronstein portrait © Natascha Unkart
3 Michael Bronstein (links) mit Bruno Correia (rechts) © Charlie Harris
Die Studie „Targeting protein-ligand neosurfaces using a generalizable deep learning
approach“ erschien in der Zeitschrift Nature am 15. Januar 2025. DOI: 10.1038/s41586-024-08435-4 https://www.nature.com/articles/s41586-024-08435-4
AutorInnen: Anthony Marchand, Stephen Buckley, Arne Schneuing, Martin Pacesa, Pablo Gainza, Evgenia Elizarova, Rebecca M. Neeser, Pao-Wan Lee, Luc Reymond, Maddalena Elia, Leo Scheller, Sandrine Georgeon, Joseph Schmidt, Philippe Schwaller, Sebastian J. Maerkl, Michael Bronstein & Bruno E. Correia
Förderung: Diese Studie wurde vom Schweizerischer Nationalfonds (SNF),
dem National Center of Competence in Research in Molecular Systems Engineering, dem National Center of Competence in Research in Catalysis , einem EPSRC Turing AI World-Leading Research Fellowship, Microsoft Research AI4Science, VantAI, Huawei Technologies Düsseldorf, Reprodivac, einem H2020 Marie Sklodowska-Curie EPFL-Fellowship und der Peter und Traudl Engelhorn Stiftung gefördert.
Michael Bronstein ist der wissenschaftliche Direktor von AITHYRA. Er zählt zu den weltweit führenden Experten für die Entwicklung neuartiger Machine-Learning-Techniken für biologische Anwendungen und kann eine erfolgreiche Bilanz in der Kommerzialisierung von Forschung und technologischen Ausgründungen sowie industrielle Erfahrung vorweisen. Michael Bronstein ist außerdem DeepMind-Professor für Künstliche Intelligenz an der Universität Oxford. Seine Forschungsinteressen umfassen geometrisches Deep Learning, Graph-Neuronale Netzwerke, 3D-Formenanalyse, Proteindesign und die Kommunikation von nicht-menschlichen Spezies. Zuvor war Michael Bronstein Leiter Graph-Learning Forschungsabteilung bei Twitter, Professor am Imperial College London und hatte Gastprofessuren an der Stanford University, MIT und Harvard inne. Er promovierte 2007 am Technion – Israel Institute of Technology.
Das AITHYRA Forschungsinstitut für biomedizinische künstliche Intelligenz verfolgt das ehrgeizige Ziel, die biologischen Wissenschaften durch KI-basierte Ansätze grundlegend zu verändern. Mit dieser visionären Herangehensweise will AITHYRA in den kommenden zehn Jahren eine biologische Revolution anstoßen, die nachhaltige Fortschritte für die menschliche Gesundheit ermöglicht. AITHYRA vereint das Beste aus Wissenschaft, Industrie und Start-ups und bringt Expert:innen aus den Bereichen KI und Lebenswissenschaften zusammen. Als neues Forschungszentrum der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit finanzieller Förderung der Boehringer Ingelheim Stiftung, hat AITHYRA seinen Sitz in Wien, einem der zentralen Drehkreuze der europäischen Life-Science-Forschung. www.oeaw.ac.at/aithyra/
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sven.hartwig@oeaw.ac.at
AITHYRA
Research Institute for Biomedical Artificial Intelligence
of the Austrian Academy of Sciences
Dr. Ignaz Seipel Platz 2
1010 Vienna
www.oeaw.ac.at/aithyra/
https://doi.org/10.1038/s41586-024-08435-4
Michael Bronstein
Natascha Unkart
© Natascha Unkart
Michael Bronstein (links) mit Bruno Correia (rechts)
Charlie Harris
© Charlie Harris
Criteria of this press release:
Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, Students
Biology, Information technology, Medicine
transregional, national
Research results
German
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