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01/22/2025 09:05

Viele Wege führen… zu einem Embryo: Evolution hatte viele optimale Lösungen zur Verfügung

Andreas Rothe Communications, Events and Science Education
Institute of Science and Technology Austria

    Kann ein Organismus im Laufe der Evolution eine optimale Beschaffenheit erreichen? Gibt es vielleicht eine mathematische Formel, die den Weg zu diesem Optimum beschreibt? Und lässt sich das rein theoretisch herleiten? Ein internationales Forschungsteam, darunter Expert:innen vom Institute of Science and Technology Austria (ISTA), hat Antworten gefunden. Mithilfe ihres mathematischen Modells prognostizieren sie den idealen Bauplan des frühen Fruchtfliegen-Embryos und zeigen, dass der Evolution zahlreiche optimale Optionen zur Verfügung standen.

    Hätte unsere Natur ein Geheimrezept, dann wäre das vermutlich die Optimierung. Dieses Konzept besagt, dass die Welt auf einen Zustand minimaler Energie, maximaler Effizienz und höchster Fitness ausgerichtet ist. Egal, ob es sich um eine Gruppe von Walen oder einzelne winzige Zellen handelt – die Bausteine des Lebens wurden so gestaltet, dass sie sich so effizient wie möglich selbst organisieren.

    Auch die Entwicklung eines Embryos – von einem kleinen Zellhaufen zu einem mehrzelligen Organismus – wurde wohl optimiert und auf ein nahezu perfektes System abgestimmt. Eine genaue mathematische Formel, die die optimale Struktur vorhersagt, gab es bisher aber noch nicht.

    Nach fast zwei Jahrzehnten intensiver Arbeit präsentieren Physiker:innen des Institute of Science and Technology Austria (ISTA), des Frankfurt Institute for Advanced Studies und der Princeton University nun ein theoretisches Modell der frühen Embryonalentwicklung der Fruchtfliege. Mit diesem detaillierten Modell gelang es den Forschenden die optimale ‚Verdrahtung‘ des Genregulations-Netzwerks, das die frühen Entwicklungsprozesse steuert, theoretisch abzuleiten und vorherzusagen. Die Ergebnisse wurden in PNAS veröffentlicht.

    Evolution = Optimierung

    Die Evolution ist die treibende Kraft für jeden Organismus. Ein Organismus passt sich an seine Umwelt an, entwickelt Überlebensstrategien und hält dem Selektionsdruck stand. „Anpassung kann als ein Optimierungsprozess angesehen werden, oder zumindest als ein Prozess, der die Optimierung bestimmter Eigenschaften und Funktionen erfordert“, erklärt Thomas Sokolowski.

    Im Vergleich zu physikalischen Systemen, bei denen die Optimierung in der Regel zu einem Endzustand mit der niedrigsten Energie führt, scheinen biologische Systeme mehrere optimale Lösungen für dasselbe Problem zu haben. So entwickelten sich beispielsweise die Augen bei verschiedenen Tieren unabhängig voneinander, obwohl ihr Aufbau letztlich bemerkenswert ähnlich ist.

    „Augen wurden für dieselbe klar definierte Zielfunktion optimiert, nämlich die maximale Aufnahme von Lichtsignalen und dessen Codierung in neuronale Spikes. Sie sind daher stark von den Gesetzen der Physik bestimmt. Jeweilige Unterschiede zwischen diversen Augenarten lassen sich durch die verschiedenen Rahmenbedingungen erklären, unter denen sie sich entwickelt haben“, so Sokolowski weiter.

    Auch für die Entwicklung eines Embryos haben sich viele unterschiedliche Strategien herausgebildet. Dennoch erstellen aber alle einen hochpräzisen und reproduzierbaren Körperplan. Während diese Strategien wahrscheinlich von der Evolution für bestimmte Zwecke geformt und verbessert wurden, ist selten unmittelbar klar, welcher Zweck den Optimierungsprozess hauptsächlich beeinflusst hat.

    „Wir wissen immer mehr, wie sich ein Embryo entwickelt. Es ist aber oft nicht klar, welche mathematische Funktion die Entwicklung in geregelte Bahnen führt“, so Sokolowski. „Es ist wie die Suche nach der mathematischen Nadel im biologischen Heuhaufen.“

    Die Fruchtfliege

    Unter Biolog:innen als Drosophila melanogaster bekannt, handelt sich bei den kleinen Brummern um einen viel erforschten Organismus mit Nobelpreis-Erfahrung. Eric Wieschaus, Christiane Nüsslein-Volhard und Edward B. Lewis erhielten 1995 die prestigereiche Auszeichnung für die Identifizierung der sogenannten „Gap Genes“, die für die korrekte Entwicklung der Fliege entscheidend sind, und den Signalmolekül-Gradienten, die sie steuern.

    Die Gap Genes spielen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung der Körperachse des Embryos. Es handelt sich dabei um ein „genetisches Positionierungssystem“, welches den einzelnen Zellen hilft, an der richtigen Stelle ihren spezifischen Zelltyp anzunehmen und letztendlich den segmentierten Körper der Fruchtfliege zu formen. Die verschiedenen Aktivierungsstufen der Gap Genes erzeugen einen außergewöhnlich präzisen „Positionscode“ entlang der Körperachse. Dieser vermittelt jeder Zelle exakt die Informationen darüber, an welcher Stelle sie sich im Embryo befindet.

    Wie die Zeit verfliegt

    Schon vor zwanzig Jahren deuteten Forschungsarbeiten von William Bialek, Gašper Tkačik, Curtis Callan, Aleksandra Walczak, Thomas Gregor und anderen darauf hin, dass das Gap-Gene-Netzwerk der Fruchtfliege durch die Evolution äußerst präzise abgestimmt wurde. Dadurch ist es in der Lage, mit einer begrenzten Menge an Signalmolekülen eine genaue Positionsinformation bereitzustellen, vergleichbar mit einem präzisen GPS-Signal, das mit der kleinstmöglichen Anzahl von Satelliten arbeitet. Die Wissenschafter:innen setzten sich als Ziel, eine mathematische Funktion zu finden, die dieses Phänomen erklärt.

    In einem ersten Versuch untersuchten Tkačik und Kolleg:innen vereinfachte theoretische Modelle, die nur Teile der Regulierungsmechanismen des Gap-Gene-Netzwerks abbildeten. Nach und nach erhöhten sie die Komplexität des Modells, um es realistischer zu machen. Diese vereinfachten Modelle erfassten zwar nicht alle kombinierten Merkmale des Gap-Gen-Systems, ebneten aber den Weg zu einem vollständigen Optimierungsversuch.

    „Unsere anfängliche Arbeit zeigte, dass es möglich war, nichttriviale und ursprünglich unerwartete Vorhersagen für genregulatorische Interaktionen zu erhalten, indem wir sie für eine bestmögliche Kodierung von räumlicher Information unter realistischen biophysikalischen und molekularen Ressourcenbeschränkungen optimiert haben“, erklärt Tkačik.

    In der Zwischenzeit beschäftigten sich Thomas Sokolowski und seine Kolleg:innen mit detaillierten stochastischen Modellen für räumlich interagierende Gene wie die Gap Genes. Ihre Modelle beziehen natürliche Zufallsprozesse explizit ein. 2014 schloss sich Sokolowski dem Team von Tkačik am ISTA an, was die einzigartige Möglichkeit eröffnete, den ursprünglichen Optimierungsansatz mit detaillierten räumlich-stochastischen Modellen zu kombinieren. Gemeinsam gelang es den Forschenden schnell, ein Modell zu entwickeln, das sowohl realistisch die tatsächlichen Abläufe in der Fruchtfliege abbildet als auch effizient in der computergestützten Berechnung ist.

    Anfangs war das Modell auf zwei Gene begrenzt, wurde aber bald auf vier interagierende Gap Genes und drei Signalmolekül-Gradienten erweitert. Dies ermöglichte die erstmalige Durchführung einer vollständigen Optimierung des Gap-Gene-Systems. „Die von uns abgeleiteten optimalen Netzwerke reproduzieren viele charakteristische Merkmale der in der echten Fruchtfliege beobachteten räumlichen Genexpressionsprofile“, so Tkačik weiter.

    Viele „optimale“ Wege

    Die Forschenden entdeckten zu dem, dass es mehr als einen optimalen Weg zur Kodierung von Positionsinformationen im Gap-Gene-Netzwerk gibt. Verschiedene biophysikalische Parameter können die gewünschten optimalen Eigenschaften des Systems erzielen. Obwohl es sich nur um eine winzige Teilmenge aller im Rahmen physikalischer Gesetze möglichen Lösungen handelt, weisen die optimalen Lösungen dennoch eine bemerkenswerte Vielfalt auf.

    „Wir glauben, dass dies kein Nachteil, sondern ein Vorteil für die Evolution ist, da die gleiche Fitness auf vielen denkbaren Evolutionspfaden erreicht werden kann“, meint Sokolowski. „Die Evolution, die zu der von uns heute untersuchten Drosophila geführt hat, folgte zwar einem bestimmten Weg, aber die Tatsache, dass es potenziell viele alternative Wege gibt, könnte den Zugang zu einem derart fitten Organismus erleichtert haben.“ Je mehr Optionen zur Verfügung stehen, desto größer sind die Chancen, eine funktionelle zu wählen.

    Um die Prozesse, die zu funktionalen Körperplänen führen, besser zu verstehen und eine genauere Darstellung der tatsächlichen Evolutionsdynamik zu erhalten, müssen die Forscher:innen in Zukunft zusätzliche Modellansätze entwickeln, die über die numerische Optimierung von Parametern hinausgehen. Dazu müssen Faktoren wie Umwelteinflüsse oder die Mechanismen der natürlichen Selektion berücksichtigt werden – eine faszinierende und herausfordernde Aufgabe für die künftige Forschung in der theoretischen Biologie.

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    Projektförderung:
    Dieses Projekt wurde durch Mittel aus dem Human Frontiers Science Program und dem Austrian Science Fund (FWF P28844) unterstützt.


    Original publication:

    T. R. Sokolowski, T. Gregor, W. Bialek & G. Tkačik. 2025. Deriving a genetic regulatory network from an optimization principle. PNAS. DOI: https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.2402925121


    More information:

    https://ista.ac.at/de/forschung/tkacik-gruppe/ Forschungsgruppe zu Informationsverarbeitung in biologischen Systemen am ISTA


    Images

    Die Fruchtfliege. Drosophila melanogaster dient als wichtiger Modellorganismus, durch den zahlreiche Entdeckungen in der Genetik, Entwicklungsbiologie, Evolutionsbiologie und anderen Disziplinen gemacht wurden.
    Die Fruchtfliege. Drosophila melanogaster dient als wichtiger Modellorganismus, durch den zahlreiche ...

    © Shutterstock

    Professor Gašper Tkačik. Tkačik und seine Forschungsgruppe am ISTA entwickeln unter anderem theoretische Konzepte über Netzwerke die in echten Organismen vorkommen, und wie diese sich entwickeln.
    Professor Gašper Tkačik. Tkačik und seine Forschungsgruppe am ISTA entwickeln unter anderem theoreti ...

    © ISTA


    Criteria of this press release:
    Journalists
    Biology, Mathematics
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

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