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Wissenschaft
Mehr Sensoren, eine leistungsstärkere Software, eine innovative Eingangstür und eine KI im Trainingslager – das sind die jüngsten Neuerungen in der Bielefelder Forschungswohnung „KogniHome“, die von zwei Wissenschaftlern der HSBI eingesetzt werden, um einem Ziel näherzukommen: dass pflegebedürftige Menschen länger und sicherer in ihren eigenen vier Wänden leben können.
Bielefeld (hsbi). SHARLY kriegt fast alles mit: wenn der Kühlschrank geöffnet wird, wenn jemand einen Raum betritt, wenn das Licht im Schlafzimmer leuchtet. Und selbst wenn Dusche oder Toilettenspülung zum Einsatz kommen, liest das System den Wasserverbrauch mit. SHARLY steht für „Smart Home Agent Really“, und dank des Systems erinnert das Bielefelder KogniHome heute in gewisser Weise an „Big Brother“. Aber keine Angst: Diejenigen, die in dieser mit Sensorik vollgestopften Forschungswohnung im Stadtteil Bethel wissenschaftlich arbeiten, sind nicht an Indiskretionen interessiert: „Wir möchten vielmehr herausfinden, wie mithilfe von Künstlicher Intelligenz und einer vernetzten Wohnumgebung sichergestellt werden kann, das körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen so lang wie möglich selbstständig und sicher in ihren eigenen vier Wänden leben können“, so Prof. Dr. Thorsten Jungeblut.
Privatsphäre bleibt gewahrt, dennoch wird sichtbar, wie es jemandem geht – gut, mittel oder schlecht
Der Professor für das Lehrgebiet Industrial Internet of Things an der Hochschule Bielefeld (HSBI) träumt davon, Angehörigen und Pflegediensten schon bald die Möglichkeit zu eröffnen, durch intelligent ausgewertete Daten von Ferne stets auf dem Laufenden zu sein, ob es einer von ihnen betreuten Person, gut geht oder ob Handlungsbedarf besteht. „Stellen Sie sich vor, es gibt irgendwann einfach eine App, mit der Sie zum Beispiel über ein simples Ampelsystem erfahren, ob alles okay ist bei Ihren hochbetagten Eltern oder ob mittelfristig oder sofort Handlungsbedarf besteht“, skizziert Jungeblut die Perspektive seiner Arbeit. „Das wäre doch praktisch!“
Zum kritischen Punkt „Big Brother“ haben der Professor und sein Doktorand Justin Baudisch auch gleich einige Lösungen parat: „Bei einem einfachen Bewertungssystem mit den Unterteilungen gut, mittel, schlecht bleibt die Privatsphäre weitgehend gewahrt“, erläutert Baudisch. „Wir arbeiten ja nicht mit Kameras, sondern mit Sensoren, deren Daten vor Ort gesammelt und analysiert werden. Solche Sensoren haben keinen oder nur sehr begrenzten Personenbezug.“ Wenn dann doch mal Daten die geschützte Umgebung verlassen sollen – zum Beispiel, um die Wissenschaft weiterzubringen –, dann werden diese homomorph verschlüsselt, versichert Baudisch. „Das ist ein innovatives Verfahren, bei dem die individuelle inhaltliche Substanz der Daten erhalten bleibt, eine Zuordnung zu konkreten Personen aber unmöglich ist.“
Günstige Minimalsensorik steigert die Realisierungswahrscheinlichkeit des Systems
SHARLY ist eine leistungsfähige Softwareumgebung, die Jungeblut und Baudisch zurzeit Schritt für Schritt optimieren. Auf einem Monitor im KogniHome macht das System schematisch und auf sehr diskrete Art und Weise sichtbar, was gerade in der Wohnung passiert. Eine Versuchsperson legt sich testweise auf den Badezimmerboden – zwei blaue Vierecke erscheinen auf dem Bildschirm und zeigen den Ort des simulierten Sturzes an. Das Badezimmerfenster ist offen – auch das visualisiert der Monitor. Sollte sich an diesem Setting für eine gewisse Zeit nichts ändern, könnte das System Alarm schlagen, um Rettungskräfte herbeizurufen.
SHARLYs Datensammelleidenschaft kann freilich nicht nur im Notfall helfen: Das System speichert und bewertet eine Unmenge von Sensordaten und erstellt so über eine gewisse Zeit ein Gesamtbild von typischen, normalen Zeitabläufen. Sobald es zu Abweichungen von der Norm kommt, kann es wertvolle Hinweise geben, denen Pflegende nachgehen können. Analysiert werden die Daten von Sensoren in Bewegungsmeldern, Lichtschaltern, Türen, Klappen und Fenstern, aber auch diejenigen in intelligent vernetzten Haushaltsgeräten wie Kaffeemaschinen, Staubsaugrobotern oder Waagen. Außerdem verarbeitet SHARLY alles, was Smartmeter monitoren: Heizung, Strom, Wasser.
„Ein Vorteil unseres Ansatzes besteht darin, dass Minimalsensoren heute schon Standard sind für viele Gebäudeeinrichter, Bad- und Küchenhersteller“, so Jungeblut. „Das heißt die Technologie ist relativ kostengünstig und so besteht eine gute Chance, dass unser System mittelfristig, zum Beispiel in der ambulanten Pflege, eingesetzt wird.“ Schon heute plant das Team zusammen mit der Ambulante Geriatrische Rehabilitation Bielefeld GmbH den Einsatz von Smart-Home-Sensorik im Rahmen der Rehabilitation zu Hause. Außerdem gibt es in den Räumlichkeiten der PVM GmbH in Brackwede eine Ausstellung verschiedener, im KogniHome eingesetzter Sensortechnologien, die jeder anschauen und ausprobieren kann. Doktorand Baudisch und sein Professor haben außerdem eine Schnittstelle zu einer Pflegemenagement-Software gebaut und steigen hier ebenfalls in Tests ein.
Daten werden homomorph verschlüsselt, und dann startet das Training der KI bei yourAI in der HSBI
Doch braucht das System tatsächlich so viele Daten und warum registriert es selbst, ob der Küchenschrank gerade geöffnet wurde und ob die Kaffeemaschine läuft? „Ganz einfach“, erläutert Justin Baudisch, „nur so kriegen wir raus, welche Verhaltensmuster normal und damit unkritisch sind und welche eine Abweichung bedeuten, die womöglich auf ein Problem hindeuten.“ Damit das zuverlässig klappt, muss die Software allerdings viel lernen und Schritt für Schritt klüger werden. Hier kommt KI ins Spiel: Die Daten aus der vernetzten Wohnung werden, wie erwähnt, zunächst homomorph verschlüsselt und dann in die HSBI übertragen. Dort gibt es ein Rechnernetzwerk namens yourAI mit der Kapazität, große Datenmengen zu verarbeiten und KIs zu trainieren.
Das Training läuft so ab: Basierend auf aufeinanderfolgenden Ereignissen werden die Aktivitäten in der Wohnung erfasst und Handlungssequenzen gebildet. Diese finden in einer Graphstruktur Abbildung. Nach einer gewissen Zeit, in der immer wieder neue Sequenzen abgebildet wurden, können Abweichungen in der Struktur – also bisher unbekannte Sequenzen oder leichte Abweichungen von bekannten Sequenzen – als Anomalien erkannt werden. Baudisch: „Bei Abweichungen vom gewohnten, in der Vergangenheit gelernten Verhalten – wir sprechen von Anomalie – werden pflegende Angehörige, das Pflegepersonal oder auch ein Rettungsdienst informiert, um, wenn nötig, entsprechende Interventionen einzuleiten.“ Bei einer noch nicht hinreichend trainierten KI wäre falscher Alarm ziemlich wahrscheinlich. Zurzeit ist das Team deshalb unter anderem dabei, der KI den richtigen Umgang mit Trends beizubringen. Dabei geht es zum Beispiel und um die Berücksichtigung von Saisonalitäten wie Wochenenden und Jahreszeiten.
Arbeit im Kontext von demografischem Wandel und Arbeitskräftemangel im Pflegebereich
Viele Daten zu sammeln, zu analysieren und mittels KI zu klassifizieren, steigert also die Zuverlässigkeit des Systems. Große Datenmengen bringen aber noch einen weiteren Vorteil, berichtet Prof. Jungeblut: „Die langfristige Messung der Aktivität kann auch die Früherkennung und Diagnose von neurologischen Erkrankungen wie Demenz erleichtern.“ Eine weitere Krankheit, auf die eine Änderung der Aktivität in der Wohnung hindeuten könnte, ist Depression. Oder das System stellt fest, dass der Wasserverbrauch in der Toilette kontinuierlich gesunken ist: ein Indiz dafür, dass eine schleichende Dehydrierung der hilfebedürftigen Person im Gange ist – eine gefährliche Entwicklung, die typisch ist insbesondere für hochbetagte Menschen.
Selbstbestimmtes Leben zu Hause auch im hohem Alter ist ein wichtiges Ziel des Gesundheitswesens, findet Prof. Jungeblut, und so bilden die sogenannte „Überalterung“ der Gesellschaft bei gleichzeitigem Arbeitskräftemangel im Pflegebereich und inhaltlich wie zeitlich oft überforderten Angehörigen den Hintergrund seiner Arbeit und der seines Doktoranden. Im KogniHome finden sie dafür ideale Voraussetzungen vor. Die Forschungswohnung in Bethel, dem Stadtteil des Bielefelder Bezirks Gadderbaum, war 2014 als gemeinsames Projekt von 14 Partnern entstanden. Acht Millionen Euro ließ es sich das Bundesministerium für Bildung und Forschung kosten, um eine zukunftsträchtige Musterwohnung entstehen zu lassen, die selbstbestimmtes Wohnen von Menschen mit Beeinträchtigungen mithilfe technischer Assistenzsysteme ermöglichen sollte. Mittlerweile wird das durch und durch vernetzte und mit allerlei technischen Finessen ausgestattete Appartement – darunter neuerdings eine innovative Eingangstür, die von Rettungskräften mit einem von SHARLY gesendeten QR-Codes geöffnet werden kann – von einem Verein betrieben, in dem die wesentlichen Köpfe aus Gesundheit, Wirtschaft und Hochschulen Mitglied sind.
Insbesondere Letztere haben sich einiges vorgenommen: Um die Datenschutzherausforderungen beispielsweise künftig noch besser in den Griff zu bekommen und an dieser Stelle robust aufgestellt zu sein, möchte HSBI-Professor Jungeblut mittelfristig erreichen, dass die Daten nicht nur vor Ort gesammelt und dann anonymisiert weitergegeben werden, sondern dass auch die KI-Verarbeitung selbst lokal stattfindet. Diese sensornahe KI-basierte Vorverarbeitung in der Wohnung kann aber aufgrund begrenzter Rechenkapazitäten zusätzliche Schritte erforderlich machen. Ein sogenanntes Co-Design der Hardware vor Ort und der KI müsste erfolgen. Jungeblut: „Das versuchen wir gerade zu erreichen, indem wir zunächst Verfahren zur Reduktion der Modellkomplexität beispielsweise durch Quantisierung Approximation anwenden, also eine Vereinfachung, durch die sich der Rechenbedarf reduzieren lässt, ohne dass die Genauigkeit des KI-Modells darunter leidet.“ Es bleibt also spannend im KogniHome, „Big Brother“ allerdings bleibt in dieser Wohnung diskret und ist auch künftig auf die Wahrung der Privatsphäre bedacht.
https://www.hsbi.de/presse/pressemitteilungen/innovationen-fuer-ambulante-pflege... Pressemitteilung auf www.hsbi.de
Doktorand Justin Baudisch (l.) und Prof. Dr. Thorsten Jungeblut von der HSBI forschen gemeinsam i ...
H. Hilpmann/HSBI
Durch Minimalsensorik können exakte Bewegung im KogniHome erkannt, erfasst und dargestellt werden. ( ...
H. Hilpmann/HSBI
Criteria of this press release:
Journalists
Electrical engineering, Information technology, Nutrition / healthcare / nursing, Social studies
transregional, national
Research projects
German
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