idw - Informationsdienst
Wissenschaft
Am heutigen 6. Februar wurde der Wahl-O-Mat für die Bundestagswahl freigeschaltet. Prof. Dr. Andrea Szukala ist Inhaberin des Lehrstuhls für Politische Bildung an der Universität Augsburg. Hier bildet sie Studierende im Lehramt Politik und Sozialkunde aus und forscht über politisches Lernen. Sie ist eine gefragte Expertin zu politischer Bildung, zum Beispiel als Sachverständige im Deutschen Bundestag. Im Gespräch erzählt sie, wie Bürgerinnen und Bürger Wahlentscheidungen treffen, ob Tools wie der Wahl-O-Mat sie darin unterstützen können und welche Möglichkeiten politische Bildung hat.
Wie treffen Menschen eigentlich Wahlentscheidungen?
Prof. Dr. Andrea Szukala: Wahlentscheidungen sind das Ergebnis recht komplexer Prozesse, bei denen viele verschiedene Faktoren zusammenwirken. Manche Menschen wählen aufgrund einer festen Bindung an eine Partei, die sie vielleicht schon seit Jahrzehnten unterstützen. Andere wiederum lassen sich eher von aktuellen Themen und spezifischen Interessen leiten: Wie steht die Partei zur Wirtschafts- und Sozialpolitik, zur Wohnungs- und Klimapolitik, zur Migration oder zur Landwirtschaftspolitik? Und dann gibt es natürlich noch diejenigen, die eher auf die Kandidatinnen und Kandidaten schauen: Wer wirkt kompetent, wer vertrauenswürdig oder sympathisch?
Gleichzeitig beeinflussen aber auch Medien und die laufenden Wahlkampagnen die Entscheidungen. Die aktuelle Nachrichtenlage spielt da eine besondere Rolle und kann die eigene Perspektive auf das ändern, was ich als Wählerin relevant finde. Die Art, wie über Themen berichtet wird, wie stark Kandidierende in den Sozialen Medien präsent sind oder wie sie in TV-Debatten auftreten, formt dann natürlich das Bild, das sich die Wählerinnen und Wähler von ihnen machen. Hinzu kommen soziale Einflüsse – Gespräche mit Freunden oder Diskussionen in der Familie. Im deutschen System spielen oft auch strategische Überlegungen eine Rolle: Manchen ist es wichtig, eine Partei zu stärken, die sicher die Fünf-Prozent-Hürde überwindet oder die später in einer bestimmten Koalition regieren könnte.
Das klingt sehr kompliziert. Viele Wähler holen sich deshalb für diese Entscheidung Unterstützung. Die Internet-Entscheidungshilfe Wahl-O-Mat wurde bei den letzten Wahlen von vielen Menschen verwendet und für die kommende Bundestagswahl heute freigeschaltet. Welche Bedeutung hat so ein Instrument für die politische Meinungsbildung?
Szukala: Der deutsche Wahl-O-Mat ahmte eine niederländische Erfindung aus dem Jahr 1989 nach, den StemWijzer, der damals noch als Papiertest in Schulen durchgeführt wurde. Bei uns wurde er erstmals zur Bundestagswahl 2002 eingeführt und damals von 3,6 Millionen Menschen online ausprobiert. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 nutzten dann 21,3 Millionen Menschen diese Möglichkeit. Das zeigt das sehr große Potenzial für die Wahl am 23. Februar, denn diese Nutzungsintensität entspräche etwa einem Drittel der Wahlberechtigten.
Untersuchungen belegen, dass das Instrument, das in den ersten Jahren vor allem von gebildeten, digital affinen jungen Männern genutzt wurde, immer weitere Teile der Bevölkerung erreicht und heute beim "Normalbürger" angekommen ist. Die wichtigste Voraussetzung der Nutzung ist immer das bereits vorhandene politische Interesse. Aber gerade junge Menschen berichten auch, dass sie sich durch den Wahl-O-Mat zur Wahlteilnahme motiviert fühlen.
Wenn es genutzt wird, trägt das Angebot zur besseren Information der Wählenden bei und gleicht damit Bildungsunterschiede und soziale Unterschiede beim Zugang zu politischen Informationen auch ein wenig aus. Denn klar ist: Nur wenige Menschen, auch wenn sie politisch sehr interessiert sind, haben die Zeit, die häufig recht unverständlich geschriebenen Wahlprogramme der Parteien durchzuarbeiten. Wahlprogramme sind erfahrungsgemäß Ergebnisse von komplexen Kompromissen in den Parteien und erschließen sich leider oft eher mühsam.
Hier greift der Wahl-O-Mat: Er filtert nicht die Inhalte der Wahlprogramme, sondern er dokumentiert eine Auswahl von 38 Fragen. Diese Auswahl wird von der sogenannten Redaktion zusammengestellt, einer vielfältigen Gruppe von Menschen unter 26 Jahren, gemeinsam mit Expertinnen und Experten und den Verantwortlichen der Zentralen für politische Bildung. Zu diesen 38 Fragen müssen sich die Parteien dann positionieren. Da genau liegt aber auch ein Problem des Wahl-O-Mat, denn diese Aussagen der Parteien sind nicht immer vollständig durch ihre Wahlprogramme gedeckt und die Auswahl der Fragen filtert die Vergleichsmöglichkeiten doch schon erheblich.
Heißt das, dass ich durch den Wahl-O-Mat beeinflusst werden kann?
Szukala: Nein, da würde ich erst einmal entwarnen, denn der Wahl-O-Mat ist ein Produkt der Bundeszentrale für politische Bildung, einer staatlichen Institution, die strikter Überparteilichkeit verpflichtet ist. Die Nutzung ist vor allem sehr datensicher: Anders als bei ähnlichen Umfragen in sozialen Medien, von deren Nutzung ich eher abrate, darf man hier darauf vertrauen, dass die eigenen Daten nicht weiterverwertet werden. Als Nutzerin bin ich daher davor geschützt, eine sehr sensible digitale Spur zu hinterlassen und danach möglicherweise durch personalisierte Angebote von Parteien tatsächlich manipuliert zu werden.
Aber ja, es gab immer wieder Auseinandersetzungen um die Stellungnahmen der Parteien und deren Glaubwürdigkeit angesichts etwas anderslautender Programme. Gerade die Konflikte um das Instrument zeigen, dass der Wahl-O-Mat nicht nur ein technisches Hilfsmittel ist, sondern auch eine politisch bedeutsame Instanz, deren Gestaltung und Wirkung regelmäßig hinterfragt werden müssen. Ein wichtiger Schritt war in den letzten Jahren, dass die Darstellung der Parteibegründungen stark verbessert wurde, um den Nutzerinnen und Nutzern mehr Transparenz und Übersicht zu bieten.
Die Parteipositionen zu einer These können zum Beispiel sortiert und miteinander verglichen sowie sämtliche Antworten einer Partei auf einen Blick aufgelistet werden. So kann ein umfassender Überblick über die Positionen gewonnen werden, der auch für den Gebrauch in der politischen Bildung sehr nützlich ist. Wir können ja genau an jenem Punkt mit politischer Bildung ansetzen, an dem wir erkennen, dass Positionen eventuell nicht deckungsgleich sind, und dann mit den Teilnehmenden untersuchen, woran das liegt, mit welcher Absicht hier manipuliert wurde.
Wie kann politische Bildung bei der Wahlentscheidung weiter unterstützen?
Szukala: Viele Menschen haben heutzutage Schwierigkeiten, ihre politische Position auf einer klassischen Links-Rechts-Achse zu verorten. Der Wahl-O-Mat bietet hierfür eine Art Kompass, der hilft, die eigenen, zum Teil diffusen Überzeugungen mit den Standpunkten von Parteien abzugleichen. Manch einer erlebt da eine Überraschung, mit der wir als politische Bildner weiterarbeiten können. Gegenüber einer Reduktion von politischer Komplexität im Wahl-O-Mat setzt politische Bildung zum einen auf Nuancierung und auf Arbeit an eigenen Werten und subjektiven demokratischen Perspektiven.
Zum anderen wird bei uns regelmäßig ein anderer Wahl-O-Mat-Effekt adressiert: Kleinere Parteien erhalten durch den Wahl-O-Mat mehr Sichtbarkeit und dies kann in einem fragmentierten Vielparteiensystem dazu führen, dass Bürgerinnen und Bürger bei der Nutzung Parteien entdecken, die ihre Interessen auf den ersten Blick angemessener repräsentieren.
Aber hier muss grundsätzlich reflektiert werden, worauf ich meine Wahlhandlung eigentlich richten möchte: Geht es mir eher um die politische Artikulation und deckungsgleiche Repräsentation von eigenen Spezialinteressen, um Protest oder um die Absicherung der Handlungsfähigkeit einer Regierung? Dies sind grundsätzliche Vorklärungen der mündigen Wahlhandlung, die es erforderlich machen, dass Bürgerinnen und Bürger die Wirkzusammenhänge im deutschen Regierungs- und Parteiensystem tatsächlich durchdringen. Hierfür werden bereits in der Schule durch eine qualitativ sehr hochwertige politische Bildung unverzichtbare Grundlagen gelegt.
Prof. Dr. Andrea Szukala
Politische Bildung und Didaktik der Sozialwissenschaften
Universität Augsburg
Telefon: + 49 821 598 - 5583
E-Mail: andrea.szukala@phil.uni-augsburg.de
Criteria of this press release:
Journalists, Teachers and pupils, all interested persons
Politics, Teaching / education
transregional, national
Research results, Transfer of Science or Research
German
You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).