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Wissenschaft
Adipositas erhöht das Risiko für zahlreiche Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, aber auch psychische Erkrankungen. Prof. Dr. Kerstin Stemmer, Professorin für Molekulare Zellbiologie am Lehrstuhl für Biochemie und Molekularbiologie der Universität Augsburg erklärt die Rolle der Genetik beim Abnehmen und die Wirkung der sogenannten Abnehmspritze. Sie forscht zu der Frage, inwiefern Fettzellen direkt mit der Bauchspeicheldrüse kommunizieren können, um die Insulinproduktion anzukurbeln.
Was ist Adipositas?
Adipositas gilt heute als chronische Erkrankung. Der Körper lagert dabei zu viel Fett ein. Medizinisch wird sie ab einem Body-Mass-Index (BMI) über 30 diagnostiziert und stellt ein ernstzunehmendes gesundheitliches Problem dar. Sie erhöht das Risiko für zahlreiche Folgeerkrankungen wie Typ-2-Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Leiden, bestimmte Krebsarten, aber auch für Gelenkprobleme und psychische Erkrankungen. Seit 2020 wird Adipositas als eigenständige chronische Erkrankung anerkannt, zuvor galt sie nur als Risikofaktor für die genannten Erkrankungen.
Im Jahr 2024 leben weltweit rund 43 Prozent der Erwachsenen mit Mehrgewicht, darunter 16 Prozent mit Adipositas. Besonders alarmierend: Seit 2022 gibt es erstmals weltweit mehr adipöse Kinder und Jugendliche als untergewichtige.
Wie ist es dazu gekommen?
Unsere Umwelt und unser Lebensstil haben sich in den letzten Jahrzehnten dramatisch verändert. Hochkalorische Lebensmittel sind jederzeit verfügbar, körperliche Arbeit nimmt ab, Bewegung wird weniger – viele Tätigkeiten finden heute im Sitzen statt. Die Energiezufuhr übersteigt dauerhaft den Verbrauch. Gleichzeitig ist unser Körper noch immer auf das „Überleben“ in Zeiten des Mangels programmiert: Er speichert Energie in Form von Fett und gibt sie nur ungern wieder her.
Welche Rolle spielt die Genetik beim Zunehmen?
Viele denken: „Man muss sich nur zusammenreißen.“ Aber so einfach ist es nicht. Genetik spielt eine wichtige Rolle. In den meisten Fällen liegt jedoch nicht eine einzelne genetische Ursache vor, sondern ein komplexes Zusammenspiel aus Genetik, Umweltfaktoren und Verhalten. Sogar Vorlieben für bestimmte gesunde oder ungesunde Nahrungsmittel, oder ob wir uns gerne sportlich betätigen, liegen in unseren Genen. Heute sind mehrere hundert Genvarianten bekannt, also kleine individuelle Veränderungen in den Genen, die einen unterschiedlichen Einfluss auf das Körpergewicht nehmen können. So passiert es, dass manche Menschen trotz ähnlichen Lebensstils schneller zunehmen als andere. Bis zu einem gewissen Maß können wir unsere genetische Veranlagung beeinflussen, indem wir beispielsweise versuchen, schlechte Ernährungsgewohnheiten zu verändern. Meistens fallen wir nach kurzer Zeit aber wieder in alte Muster zurück, vor allem da wir in einer stark Adipositas-fördernden Umwelt leben. In sehr seltenen Fällen liegt ein genetischer Defekt vor. Auch eine – ebenfalls seltene – Resistenz gegen das Hormon Leptin kann Übergewicht fördern.
Warum ist Abnehmen so schwer – und warum kommt das Gewicht oft wieder?
Langfristig schlank zu bleiben, erfordert daher mehr als Disziplin: Der Körper „merkt“ sich das alte Gewicht und strebt aktiv danach zurück.
Es ist wichtig zu verstehen, dass Personen mit einem BMI über 30 ihr Mehrgewicht nicht dauerhaft durch eine Diät loswerden können. Bei einer Diät versucht der Körper, die verlorene Energie wieder zurückzuholen – er senkt den Ruheumsatz, also den Kalorienverbrauch des Körpers im absoluten Ruhezustand, und steigert das Hungergefühl. Dieser Mechanismus ist tief im Stoffwechsel verankert und war früher überlebenswichtig. Heute führt er dazu, dass viele Menschen nach dem Abnehmen wieder zunehmen – manchmal sogar noch mehr als vorher. Diesen Effekt nennt man Jo-Jo-Effekt. Er tritt häufig bei sogenannten Crash-Diäten verstärkt auf, bei denen man in sehr kurzer Zeit viel Gewicht verliert. In wissenschaftlichen Studien hat man herausgefunden, dass der Ruheumsatz noch Jahre später deutlich niedriger ist und die Betroffenen deshalb wieder schnell an Gewicht zunehmen.
Was kann nun die sogenannte „Abnehmspritze“?
Ein großer Fortschritt in der Adipositastherapie ist die medikamentöse Behandlung mit sogenannten GLP-1-Rezeptor-Agonisten wie Semaglutid. Dieses Medikament wirkt wie ein natürliches Hormon, das nach dem Essen ausgeschüttet wird. Es signalisiert dem Gehirn: „Du bist satt.“ Semaglutid wirkt auf mehreren Ebenen: Es hemmt das Hungergefühl im Gehirn, auch Heißhungerattacken werden seltener. Es verlangsamt die Magenentleerung, was auch zur Sättigung beiträgt und es verbessert die Blutzuckerregulation nach dem Essen. Studien zeigen: Mit einer wöchentlichen Injektion bis maximal 2,4 mg Semaglutid können Betroffene im Schnitt etwa 15 Prozent ihres Körpergewichts verlieren. Dabei scheint die Wirkung bei einem hohen BMI stärker zu sein als bei einem niedrigen BMI.
Gibt es Nebenwirkungen?
Ja, wie bei jedem Medikament. Die Abnehmspritze darf deshalb nur unter ärztlicher Verordnung eingenommen werden. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Verdauungsstörungen wie Durchfall, Erbrechen oder Übelkeit.
Diese Beschwerden treten meist am Anfang auf und lassen mit der Zeit nach. Ernstere Nebenwirkungen wie Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und der Gallenblase oder allergische Reaktionen sind sehr selten. Auch wird untersucht, ob es durch den Wirkstoff zu einem erhöhten Risiko für Schilddrüsentumore beiträgt oder bei Diabetikern zu einer Verschlechterung der diabetischen Retinopathie führen kann.
Wie lange muss man die Spritze nehmen?
Die Wirkung hält nur an, solange das Medikament regelmäßig eingenommen wird. Wird es abgesetzt, kehren Appetit und Gewicht oft zurück. Heute gehen wir davon aus, dass Adipositas eine chronische Erkrankung ist – also nicht heilbar. Das bedeutet: Viele Menschen brauchen eine langfristige oder sogar lebenslange Behandlung.
Gibt es auch neue Medikamente?
Ja. Seit 2024 ist mit Tirzepatid ein weiterer Wirkstoff auf dem Markt. Dieser kombiniert die Wirkung des GLP-1 mit einem ähnlich wirksamen zweiten Hormon, dem GIP. Der Kombinationswirkstoff unterdrückt das Hungergefühl, regt aber durch GIP noch stärker die Insulinproduktion an. In klinischen Studien war die Wirkung auf Blutzucker und Gewicht stärker als bei Semaglutid. Zudem wird intensiv an Kombinationen mit weiteren Substanzen geforscht, die Fett-, Energie- und Zuckerstoffwechsel positiv beeinflussen, aber aktuell noch nicht zugelassen sind.
Und reicht die Spritze allein aus?
Nein. Die Medikamente helfen beim Einstieg – aber entscheidend ist der Lebensstil. Damit das Gewicht dauerhaft reduziert bleibt, müssen neue, gesunde Gewohnheiten fest im Alltag verankert werden. Dazu gehören vor allem eine ausgewogene Ernährung und mehr Bewegung. Entscheidend ist aber, dass diese Umstellung mit Hilfe der Abnehmspritze viel häufiger gelingt.
Woran forschen Sie zu diesem Thema?
Adipositas ist ein Risikofaktor für Typ-2-Diabetes, bei dem der Körper zunächst die Fähigkeit verliert, auf das Blutzucker-senkende Hormon Insulin zu reagieren. In Folge schüttet die Bauchspeicheldrüse mehr Insulin aus, um die rückgehende Wirkung auszugleichen. Da Adipositas zunächst durch eine Zunahme der Fettmasse charakterisiert ist, interessierte uns in Augsburg die Frage, ob Fettzellen direkt mit der Bauchspeicheldrüse kommunizieren können, um die Insulinproduktion anzukurbeln. Wir konnten zeigen, dass dies tatsächlich möglich ist: Fettzellen senden sogenannte extrazelluläre Vesikel aus – winzige Bläschen, die Eiweiße, Fette oder genetische Informationen enthalten. Diese Vesikel können die Funktion der Bauchspeicheldrüse beeinflussen – etwa die Insulinproduktion steigern oder verändern.
Ziele unserer Forschung sind: neue Therapieansätze zu entwickeln, z. B. durch gezielte Beeinflussung dieser extrazellulären Vesikel, die Frühzeichen für Diabetes noch früher und genauer zu erkennen sowie Wirkungen und Nebenwirkungen neuer Adipositas- und Diabetes-Medikamente noch besser zu verstehen.
Prof. Dr. Kerstin Stemmer
Professorin für Molekulare Zellbiologie, Biochemie und Molekularbiologie
Telefon: +49 821 598 - 71116
kerstin.stemmer@med.uni-augsburg.de
Fettzellen unter dem Mikroskop. Diese wachsen in einer Kulturschale. Blau sichtbar gemacht sind die ...
Kerstin Stemmer
Universität Augsburg
Prof. Dr. Kerstin Stemmer
Universität Augsburg
Universität Augsburg
Criteria of this press release:
Journalists, all interested persons
Biology, Chemistry, Medicine
transregional, national
Research results, Transfer of Science or Research
German
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