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Wissenschaft
Mainz, 20.05.2025 – In einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte drängend ist, hat eine Podiumsdiskussion im Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz richtungsweisende Impulse gesetzt, um das Verständnis von Geschichte in einer postkolonialen Demokratie zu fördern.
Mainz, 20.05.2025 – In einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte drängend ist, hat eine Podiumsdiskussion im Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz richtungsweisende Impulse gesetzt, um das Verständnis von Geschichte in einer postkolonialen Demokratie zu fördern.
Ein Höhepunkt der bundesweiten Aktionswoche des neugegründeten Netzwerkes „Historiker:innen für eine demokratische Gesellschaft“ (hist4dem) war eine Gesprächsrunde mit Vertretern von Zivilgesellschaft und Wissenschaft am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz (IEG). Die Runde unter dem Titel „Geschichte in der postkolonialen Demokratie“ widmete sich gezielt dem Verständnis des „Postkolonialen“ in Theorie, Geschichte und Alltagspraxis. Wie die Initiatoren, die Mainzer Historiker Kilian Harrer vom IEG und Andreas Frings von der Johannes Gutenberg-Universität (JGU), im Vorfeld ausführten, stellten postkoloniale Perspektiven keine verzichtbaren, oder gar abstrusen Unternehmungen dar, wie in jüngster Zeit oft zu hören sei, sondern sie seien für „ein gutes demokratisches Zusammenleben notwendig“. Sie beinhalteten eine positive Vision von einer solidarischen Demokratie, die sich gerade auch gegen die aktuelle Normalisierung völkischen Denkens in Deutschland und gegen demokratiefeindliche Bestrebungen richte. So führten denn auch mehrere Redner aus, dass die deutsche Demokratie unausweichlich eine postkoloniale sei, denn die Gesellschaft hierzulande könne gar nicht anders, als mit den Nachwirkungen und Verstrickungen des deutschen und europäischen Kolonialismus zu leben.
Impulse und Diskussionsbeiträge kamen von Prof. Dr. Thomas Blank, Dr. Kilian Harrer, Benan Şarlayan, Aline Meyenberg M.A., Dr. Marlène Harles, Dr. Anne-Maria Brandstetter, Prof. Dr. Nicole Reinhardt, Dr. Andreas Frings, Ronald Uhlich, Dr. Bernhard Gißibl.
Wie die Initiatoren Harrer und Frings im Vorfeld ausführten, stellten postkoloniale Perspektiven keine verzichtbaren, oder gar abstrusen Unternehmungen dar, wie in jüngster Zeit oft zu hören sei, sondern sie seien für „ein gutes demokratisches Zusammenleben notwendig“. Sie beinhalteten eine positive Vision von einer solidarischen Demokratie, die sich gerade auch gegen die aktuelle Normalisierung völkischen Denkens in Deutschland und gegen demokratiefeindliche Bestrebungen richte. So führten denn auch mehrere Redner aus, dass die deutsche Demokratie unausweichlich eine postkoloniale sei, denn die Gesellschaft hierzulande könne gar nicht anders, als mit den Nachwirkungen und Verstrickungen des deutschen und europäischen Kolonialismus zu leben.
Andreas Frings hob eingangs hervor, dass die AfD in Hessen und die Freien Wähler im rheinland-pfälzischen Landtag nicht von ungefähr Auskunft über die universitäre Lehre zu postkolonialer Theorie verlangt hätten. Rechte Politiker, teilweise mit Unterstützung aus der Wissenschaft, würfen postkolonialen Ansätzen Schwarz-Weiß-Malerei, „Anti-Universalismus“, „Wokismus“ und „inhärenten Antisemitismus“ vor. Hier müssten die Alarmglocken schrillen – nicht nur, weil die Freiheit von Lehre und Forschung berührt sei, sondern weil es auch um außerwissenschaftliche Konflikte und Auswirkungen gehe. Kilian Harrer skizzierte, dass aus postkolonialer Warte stets zu fragen sei: „Wessen Stimmen werden nicht gehört? Wer spricht für wen und über wen?“ Dabei sei Postkolonialismus nicht nur eine Perspektive, sondern auch eine Diagnose, die Denk- und Redemuster kritisch und selbstkritisch befrage.
Die Historikerin Aline Meyenberg (JGU Mainz) erläuterte, dass die Osteuropäische Geschichte vom Vergleich zwischen postsowjetischen und postkolonialen Staaten aktuell profitiere. Im russischen Angriffskrieg auf die Ukraine würden von den Angreifern permanent koloniale Narrative von Rückständigkeit und Zivilisierungsmission als Rechtfertigung benutzt.
Der Historiker Bernhard Gißibl (IEG), der die Stadtgeschichte Mannheims postkolonial erforscht, versteht Postkolonialismus als Lernprozess, weswegen der Vorwurf des „absoluten Deutungsanspruchs“ falsch sei. Vielmehr fordere der Postkolonialismus das Gegenteil, nämlich die Aufnahme von Stimmen, die bislang nicht gehört wurden, und ebenso die Öffnung des akademischen Betriebs für Subalterne.
Für die Alte Geschichte erläuterte Thomas Blank (JGU Mainz), dass die Antike nicht „präkolonial“, sondern auch durch „imperiale Machtstrukturen“ geprägt gewesen sei. Postkolonialismus öffne hier neue Perspektiven, etwa die Infragestellung des „griechischen Wunders“ oder eine Neudefinition des „klassischen“ Fächerkanons.
Aus der Praxis berichtete Fußballer Ronald Uhlich, Mitbegründer von FC Ente Bagdad, von Integration auf dem Fußballplatz. Auf der einen Seite bade man aus, „was der Kolonialismus uns eingebrockt hat“, auf der anderen Seite kümmere man sich um Menschen in Not und auf der Flucht. Fußball verbinde Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und Erinnerungskulturen. „Wir leben Geschichte“, assistierte Ilona Rubin (FC Ente Bagdad), die auf Ballkünstler aus 25 Nationalitäten in ihren Reihen verwies.
Die Ethnologin Anne-Maria Brandstetter (JGU Mainz) und die Kuratorin Marlène Harles (Kunsthalle Mainz) blickten zurück auf 29 postkoloniale Stadtrundgänge durch Mainz in anderthalb Jahren. Sie stellten die Frage, wie „der Raum, in dem wir leben“, aussieht und welche Möglichkeiten der Veränderung er bietet.
Dass sich postkoloniale Perspektiven nur sehr schwer in den Geschichtsunterricht einbringen lassen, stellte der Frankfurter Lehrer Benan Şarlayan frustriert fest. Postkoloniale Perspektiven fehlten fast völlig in Schulbüchern, vielmehr reproduziere der Unterrichtsstoff häufig genug koloniale Denkweisen. Um hier voranzukommen, müsse man „die Lehrpläne aufbrechen“.
Nicole Reinhardt, Direktorin des IEG, merkte an, dass es auch koloniale Streitkräfte waren, die den 8. Mai, an dem die Diskussionsrunde stattfand, zu einem Tag der Befreiung vom Faschismus gemacht hätten. Europa seit der so genannten „Entdeckung“ Amerikas könne gar nicht ohne koloniale Zusammenhänge gedacht werden.
In der Diskussion mit dem Publikum stand zum einen die Frage im Zentrum, wie die Situation an den Schulen angesichts der „Beharrungskräfte“ verbessert werden könne. Schüler und Studenten, so die Forderung, sollten besser mit postkolonialen Sichtweisen vertraut gemacht werden, besonders in Fach Geschichte sei dies wichtig. Hier sahen die versammelten Historiker durchaus einen Hoffnungsschimmer angesichts eines sichtbaren Interesses bei Studierenden und Verlagen.
Zum anderen wurde die Frage aufgeworfen, wie es gelingen könne, die Diskurshoheit nicht den Gegnern des Postkolonialismus zu überlassen und sich nicht auf deren Debattenniveau herabzulassen. Gegen Verzerrung sei Differenzierung zwar nötig, aber nicht immer erfolgreich. Zudem gehe es bei der laufenden Kampagne gegen das vielstimmige postkoloniale Forschungsfeld nicht allein um wissenschaftliche, sondern auch um politische und gesellschaftliche Fragen. Daher plädierten mehrere Wortmeldungen für eine stärkere Vernetzung von Zivilgesellschaft und Wissenschaft, wofür die Gesprächsrunde in Mainz freilich ein gelungenes Beispiel lieferte.
Gesprächsrunde mit Impulsen von Thomas Blank, Kilian Harrer, Benan Şarlayan, Aline Meyenberg, Marlène Harles, Anne-Maria Brandstetter, Nicole Reinhardt, Andreas Frings, Ronald Uhlich, Bernhard Gißibl (von links nach rechts).
Bildrechte: IEG
Das IEG
Das IEG ist ein selbstständiges außeruniversitäres Forschungsinstitut und seit 2012 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Seine Aufgabe ist die wissenschaftliche Erforschung der europäischen Geschichte. Es betreibt und fördert Forschungen zu den politischen, sozialen, religiösen und kulturellen Grundlagen Europas in der Neuzeit und befasst sich mit aktuellen Entwicklungen in den Digital Humanities. Seine Beschäftigten forschen sowohl in Einzel- als auch Gemeinschaftsvorhaben sowie mit internationalem wissenschaftlichem Nachwuchs, den es durch sein angesehenes Stipendien- und Gästeprogramm fördert.
PD Dr. Manfred Sing, Telefon: +49 6131 39 39 475, E-Mail: sing@ieg-mainz.de
http://PD Dr. Manfred Sing, Telefon: +49 6131 39 39 475, E-Mail: sing@ieg-mainz.de
Gesprächsrunde mit Impulsen von Thomas Blank, Kilian Harrer, Benan Şarlayan, Aline Meyenberg, Marlèn ...
IEG
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Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students, all interested persons
History / archaeology
transregional, national
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German
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