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06/23/2025 08:00

Wie eine langsame Digitalisierung der Demokratie hilft

Catherine Weyer Kommunikation
Universität Basel

    Mithilfe eines Monitorings will Dr. Christian R. Ulbrich beobachten, auf welche Art und Weise die Digitalisierung von Ländern voranschreitet. In der ersten Fassung vergleicht er vier europäische Staaten miteinander. Sein Fazit: Schneller ist nicht unbedingt besser. Und die Schweiz fährt mit ihrem dezentralisierten Kurs eine kluge Strategie.

    Christian Ulbrich, wieso beobachten Sie die Digitalisierung von Staaten unter dem Aspekt der Demokratie?

    Der reine Fortschritt der Digitalisierung wird bereits von verschiedenen Institutionen, von OECD bis UN, beobachtet. Dabei befinden sich Staaten auf den ersten Rängen, die mit der digitalen Transformation bereits weit fortgeschritten sind. Estland gilt als eine dieser Vorreiter. Länder wie die Schweiz oder Deutschland landen meist eher auf den hinteren Plätzen, weil sie in Sachen Digitalisierung noch einen weiten Weg vor sich haben. Dabei wird aber ignoriert, auf welche Art und Weise die Digitalisierung erfolgt ist und ob sie auf eine «demokratiekompatible» Art und Weise umgesetzt wurde. Das hat mich schon immer geärgert. Länder wie die Schweiz oder Deutschland nehmen bewusst einen langwierigeren Prozess in Kauf nehmen, um einen anderen Ansatz zu verfolgen und um hohe digitale Standards zu etablieren.

    Wie sieht denn ein solche «bessere» Digitalisierung aus?

    Wir bezeichnen das als «demokratiekompatible» Digitalisierung. Zum einen fasst sie alle drei Gewalten ins Auge und achtet darauf, dass sich auch in einer digitalisierten Welt Parlamente, Gerichte und öffentlichen Verwaltungen auf Augenhöhe begegnen können. Zum anderen legt sie Wert darauf, dass es im Bereich der öffentlichen Verwaltung nicht zu neuartigen Machtkonzentrationen kommt, die mit der Zeit die für funktionierende Demokratien so essenzielle Verteilung von Einfluss auf viele verschieden Schultern untergraben würden.

    Was heisst das konkret?

    Ein Aspekt davon ist ein dezentraler Digitalisierungsansatz auf Basis von offenen und harmonisierten Standards, Schnittstellen und Protokollen. Wenn sich etwa im Zuge der digitalen Transformation einzelne Behörden Zugriff auf zu viele Daten verschaffen können, ist dies problematisch. Nicht unbedingt in einer gut funktionierenden Demokratie, aber in Ländern, in denen illiberale oder autokratische Strömungen an die Macht kommen. Wenn Daten dezentral gehalten werden, ist es viel schwieriger, missbräuchlich Informationen über die Bevölkerung zu sammeln oder Profile über einzelne und eventuell unliebsame Personen zu erstellen, weil immer wieder jemand dazwischengeschaltet ist, der dieser Abfrage zustimmen muss.

    Wie realistisch ist so ein Szenario?

    Weltweit sind die liberalen Demokratien leider auf dem Rückzug. Dass selbst sehr «alte» und erfahrene Demokratien unter Druck geraten können, zeigen gerade die USA. Vor einem Jahr wäre es dort noch nicht vorstellbar gewesen, dass die Daten von Millionen Bürgerinnen und Bürger aus verschiedensten Datenbanken mithilfe eines privaten Unternehmens an einem zentralen Ort zusammengeführt werden. Heute ist es eine Tatsache. Dass dies keine gute Idee ist, hat das Beispiel Brasilien gezeigt. Der brasilianische Geheimdienst fragte von der staatlichen «Superdatenbank» in einem Monat mehr als 75 Millionen Datensätze ab. Dort fanden sie Informationen zu Finanzdaten, Gesundheitsdaten, Vergehen, biometrischen Daten und so weiter. Es ist naheliegend, dass diese Informationen später zur Überwachung politsicher Gegner genutzt wurden. Aber auch andere Länder wie Polen oder Ungarn beweisen, dass Demokratien und ihre Werte nicht in Stein gemeisselt sind.

    Wäre es besser, auf Digitalisierung zu verzichten?

    Nein, auf keinen Fall! Die digitale Transformation ist eine der grossen Herausforderungen unserer Generation. Die Digitalisierung auch des Staates ist notwendig, um in einer immer digitaleren und komplexeren Welt erfolgreich regieren zu können. Ausserdem bietet sie die einmalige Gelegenheit, die demokratischen Institutionen «wetterfest» zu machen und sie im Rahmen des Umzugs in den digitalen Raum resilienter zu gestalten. Ich glaube aber, dass wir uns auch die nötige Zeit nehmen müssen, um geeignete digitale Systeme zu entwickeln.

    Wo sehen Sie die grössten Risiken bei der Digitalisierung des Staates?

    Die Gefahr ist, dass wir die Methoden und Denkansätze, die in der Privatwirtschaft bereits etabliert sind und dort gut funktionieren, für den Staatsapparat unhinterfragt übernehmen. Dabei müssen die Systeme für den Staat andere Kriterien erfüllen. Im Kontext der digitalen Wirtschaft geht es primär um Kosten, Kontrolle, Tracking und Benutzerfreundlichkeit, in Demokratien sollte es eher um Gewaltenteilung, Einflussverteilung und Partizipation gehen. Benutzerfreundlichkeit ist natürlich für die Akzeptanz auch wichtig, Bürger und Bürgerinnen wollen ihre Formulare mit einem Klick automatisch ausfüllen lassen. Aber was im Hintergrund passiert, wie genau die Daten in das Formular kommen, ist staatsrechtlich noch viel wichtiger.

    In Ihrem Monitor fokussieren Sie sich auf die Schweiz, Deutschland, Grossbritannien und Estland. Was fällt in diesen Ländern auf?

    Neben der Schweiz schauen wir uns Deutschland und Grossbritannien an, die beiden grössten Volkswirtschaften Europas mit unterschiedlichen politischen Systemen – Deutschland ist ähnlich aufgestellt wie die Schweiz, Grossbritannien deutlich zentralistischer. Estland hingegen war eines der Länder, die als erste auf den digitalen Zug aufgesprungen sind. Wir konnten feststellen, dass Deutschland und die Schweiz einen völlig anderen Ansatz gewählt haben als Grossbritannien und Estland – das Ausmass der Unterschiede hat uns schon überrascht. Gleichzeitig sind die Schweiz und Deutschland viel langsamer. Das darf meiner Meinung nach aber nicht negativ ausgelegt werden. Die beiden Länder fokussieren sich auf dezentrale, föderalistische Lösungen. Diese umzusetzen, braucht zwar mehr Zeit, sie könnte aber auf lange Sicht erfolgreicher sein.

    Inwiefern?

    Die ökonomische Forschung verwendet das sogenannte «Leapfrogging»-Modell, um dies zu veranschaulichen. Die früh gestarteten Länder wie Estland und das Vereinigte Königreich mussten ihre digitale Transformation auf der damals verfügbaren Technologie und dem damaligen Wissen aufbauen. Sie sind nun teilweise «gefangen» in dem anfangs gewählten Ansatz, dem Architekturmodell oder der Technologie. Die später gestartete Schweiz und Deutschland können hingegen auf einer gänzlich anderen Technologie- und Wissensbasis aufbauen und daher mit der Zeit die anderen beiden Länder sogar überspringen.

    Wie steht die Schweiz in diesem Punkt heute da?

    Nehmen wir das Beispiel Gewaltenteilung. Es ist wichtig, dass die drei Gewalten Judikative, Exekutive und Legislative ausbalanciert sind. Oft ist es so, dass die Verwaltung stärker digitalisiert ist. Wenn das Parlament die digitalen Informationen der Verwaltung nicht mehr unabhängig überprüfen kann, weil es keine eigenen digitalen Informationsquellen hat, gibt es ein Machtgefälle, das für die Demokratie gefährlich werden kann. Gleiches bei den Gerichten: Auch sie müssen in der Lage sein, mit der digitalen Informationsflut umzugehen und aufpassen, dass sie nicht von der Verwaltung abhängig werden. Die Schweiz ist interessanterweise bereits sehr gut aufgestellt, wenn es um Parlamente und Gerichte geht. Anders als in den anderen beobachteten Ländern verfolgt die Digitalisierung die richtigen Ansätze. Dafür hinkt die Verwaltung etwas hinterher.

    Wieso?

    Das ist kurioserweise wohl dem Umstand geschuldet, dass sie auch analog sehr gut funktioniert. Es gibt keinen allzu grossen Leidensdruck, die Digitalisierung voranzutreiben. Das hat den negativen Effekt, dass die Digitalisierung derzeit vor allem auf Bundesebene vorangetrieben wird. Das ist aber kein abschliessendes Urteil, die Verwaltungen stehen einfach noch am Anfang ihrer Reise. Die staatliche Digitalisierung ist ein Mammutprojekt, wir reden hier vermutlich von den nächsten beiden Jahrzehnten.

    Sie sagten bereits, dass Estland ein Vorreiter ist: Wie schnell muss die Schweiz in der Digitalisierung aufholen?

    Ich glaube nicht, dass man hier von einer Aufholjagd sprechen sollte. Aber wir können von Staaten, die schon weiter sind, lernen und auch Fehler vermeiden: Hier soll unser Monitor Transparenz schaffen und ausserdem mögliche langfristige Konsequenzen für das Funktionieren von Demokratien aufzeigen. Gerade letzteres fehlt bisher in der internationalen Debatte rund um die Digitalisierung.

    Monitor zur Widerstandsfähigkeit von Demokratien im digitalen Zeitalter

    Im Rahmen einer breit angelegten Studie hat die Forschungsstelle für Digitalisierung in Staat und Verwaltung e-PIAF die Folgen der staatlichen Digitalisierung für das demokratische System und seine Institutionen untersucht und dafür die Schweiz mit Deutschland, Estland und dem Vereinigten Königreich verglichen. Der erste Monitor konzentriert sich auf das staatsorganisatorische Innenverhältnis und erscheint im Juni 2025, ein zweiter und dritter Monitor mit Fokus auf das Verhältnis von Staat zu Staatsvolk, beziehungsweise auf das Verhältnis zu extraterritorialen Kräften wird folgen. Anschliessend sind regelmässige Updates zum Fortgang der Entwicklungen geplant.


    Contact for scientific information:

    Dr. Christian R. Ulbrich
    christian.ulbrich@unibas.ch
    https://ius.unibas.ch/de/personen/christian-r-ulbrich/


    Original publication:

    www.automateddemocracy.com


    Images

    Forschungsstelle für Digitalisierung in Staat und Verwaltung e-PIAF
    Forschungsstelle für Digitalisierung in Staat und Verwaltung e-PIAF
    Source: Kostas Maros
    Copyright: Universität Basel


    Criteria of this press release:
    Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars
    Law, Media and communication sciences, Politics, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Science policy
    German


     

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