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06/25/2025 09:28

Reale Tariflöhne machen in Europa wieder deutlich Boden gut, Gewerkschaften reduzieren Kaufkraftverluste

Rainer Jung Abt. Öffentlichkeitsarbeit
Hans-Böckler-Stiftung

    Neuer Europäischer Tarifbericht des WSI

    Reale Tariflöhne machen in Europa wieder deutlich Boden gut, Gewerkschaften reduzieren Kaufkraftverluste – Aufholbedarf besteht aber weiterhin

    Erstmals seit dem Inflationsschub des Jahres 2021 haben die Tariflöhne im vergangenen Jahr in Europa wieder deutlich Boden gut gemacht: Für die Eurozone lag der nominale Zuwachs bei 4,5 Prozent und auch nach Abzug der Inflation verblieb den Beschäftigten ein reales Plus von 2,1 Prozent. Besonders hohe Kaufkraftgewinne gab es in Österreich (5,4 %), Portugal (4,5 %) und der Slowakei (3,8 %). Auch in Deutschland lag der inflationsbereinigte Zuwachs mit 2,8 Prozent leicht oberhalb des Durchschnitts. Die Erfolge wurden von den Gewerkschaften teilweise hart erkämpft: Die vergangenen beiden Jahre waren in Europa ausgesprochen streikreich. Trotzdem besteht bei den Tariflöhnen weiterhin Aufholbedarf. Das ergibt der neue Europäische Tarifbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, für den unter anderem die neuesten verfügbaren Daten der Europäischen Kommission zur Lohn- und Preisentwicklung ausgewertet werden.*

    Während der jüngsten Inflationskrise waren die Tarifsteigerungen zunächst deutlich hinter die explodierende Inflationsrate zurückgefallen. Das lag laut Europäischem Tarifbericht häufig an den langen Laufzeiten von Tarifverträgen, die etwa in Deutschland durchschnittlich zwei Jahre betragen. Während eines laufenden Tarifvertrags herrscht Friedenspflicht, sodass die Gewerkschaften erst mit Verzögerung auf unvorhergesehene Ereignisse wie die Preisschocks reagieren konnten. Die Folge waren erhebliche Kaufkraftverluste für die Beschäftigten, während Preiserhöhungen gleichzeitig bei vielen Unternehmen zu steigenden Gewinnmargen führten, analysieren die Studienautoren Thilo Janssen und Dr. Malte Lübker. „Die jüngsten Zugewinne lassen sich deshalb als Gegenbewegung verstehen. Der Aufholprozess ist allerdings noch nicht abgeschlossen, sodass hohe Lohnforderungen weiterhin Berechtigung haben“, sagt Lübker.

    Mit Ausnahme Portugals liegen die Tariflöhne in allen Ländern mit verfügbaren Daten nach Abzug der Inflation noch unterhalb des Niveaus des Jahres 2020. Besonders drastisch sind die Verluste in Tschechien (-11,4 %), Italien (-9,1 %) und Spanien (-5,6 %). In Deutschland beträgt der Rückstand gegenüber dem Jahr 2020 nach den Daten des WSI-Tarifarchivs noch 4,7 Prozent (siehe auch Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Wenn der Tarifindex des Statistischen Bundesamtes verwendet wird, ergibt sich aufgrund methodischer Unterschiede sogar eine Lücke von 7,8 Prozent (inklusive Sonderzahlungen) bzw. von fast 10 Prozent (ohne Sonderzahlungen). In der Eurozone insgesamt lagen die realen Tariflöhne im vergangenen Jahr noch rund 5 Prozent unterhalb des Ausgangsniveaus des Jahres 2020. Insofern sei das Abflachen des Tariflohnwachstums, das etwa von der EZB erwartet wird, bedenklich, bilanzieren die WSI-Experten.

    Aufholprozess oft erst nach Streiks möglich – Blick aufs Arbeitskampfvolumen

    Die in der Studie dargestellte Entwicklung zeigt eine deutliche Zunahme des Arbeitskampfvolumens in den Jahren 2023 und 2024 – und zwar selbst in Ländern wie Österreich, in denen ansonsten kaum gestreikt wird. Deutschland liegt mit einem Streikaufkommen von jährlich 21 Ausfalltagen pro 1.000 Beschäftigten gemeinsam mit den Niederlanden im europäischen Mittelfeld. Umgerechnet auf einzelne Beschäftigte bedeutet dies, dass die Deutschen durchschnittlich 10 Minuten pro Jahr streiken – also in etwa so lange, wie eine Kaffeepause dauert.

    Deutlich mehr gestreikt wird beispielsweise in Frankreich (102 Ausfalltage), wo die Gewerkschaften – anders als in Deutschland – auch außerhalb von Tarifauseinandersetzungen zum Streik aufrufen können. Dies war 2023 etwa bei Protesten gegen die Rentenreform der Fall. Auch in Belgien (107 Ausfalltage) oder Finnland (93 Tage) ist das Arbeitskampfvolumen weitaus höher als hierzulande, Polen oder Dänemark kommen auf je 15 Ausfalltage (siehe auch Abbildung 2 in der pdf-Version). Im Hochlohnland Schweden (1 Ausfalltag) sind die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern traditionell kooperativ. Hier hat vor allem der Arbeitskampf der Gewerkschaft IF Metall gegen Tesla für internationales Aufsehen gesorgt. Tesla weigert sich, für seine schwedischen Niederlassung einen Tarifvertrag zu unterzeichnen. Inzwischen wird Tesla auch von Gewerkschaften aus anderen Branchen bestreikt, etwa indem sie Tesla die Postzustellung oder die Wartung von Ladesäulen verweigern. In Deutschland sind solche Solidaritätsstreiks nur sehr eingeschränkt möglich.

    „Immer wieder lancierte Debatten um eine weitere Einschränkung des Streikrechts in Deutschland gehen an der Realität vorbei: Weder ist das Streikvolumen besonders hoch noch ist das Streikrecht besonders liberal“, bilanzieren die Studienautoren Janssen und Lübker. Zuletzt hatten die Metallarbeitgeber einen Vorstoß gemacht, das Streikrecht in Deutschland zu beschränken. Den Vorschlägen zufolge könnten die Arbeitgeber künftig das Streikrecht der Gewerkschaften aushebeln, indem sie ein Schlichtungsverfahren beantragen. Noch weitergehende Einschränkungen wurden für Beschäftigte vorgeschlagen, die in der sogenannten Daseinsvorsorge arbeiten. Diese beträfen je nach Definition bis zu 50 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland. Insgesamt würden Beschränkungen des Streikrechts die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften erheblich schwächen. „Durchsetzungsstarke Gewerkschaften, die die Mittel des Arbeitskampfes im Notfall ausschöpfen können, sind aus Sicht der Beschäftigten unbedingt erforderlich“, betont Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI.


    Contact for scientific information:

    Kontakt in der Hans-Böckler-Stiftung

    Thilo Janssen
    WSI-Experte für europäische Arbeitsbeziehungen
    Tel.: 0211-7778-650
    E-Mail: Thilo-Janssen@boeckler.de

    Dr. Malte Lübker
    WSI-Experte für Löhne und Tarifpolitik
    Tel.: 0211-7778-574
    E-Mail: Malte-Luebker@boeckler.de

    Rainer Jung
    Leiter Pressestelle
    Tel.: 0211-7778-150
    E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de


    Original publication:

    https://www.wsi.de/de/faust-detail.htm?produkt=HBS-009159 - * Thilo Janssen, Malte Lübker: Europäischer Tarifbericht des WSI 2024/2025: Gewerkschaften streiken erfolgreich für reale Tariferhöhungen, WSI-Report 105, Juni 2025.


    More information:

    https://www.boeckler.de/data/pm_wsi_2025_06_25.pdf - Die PM mit Abbildungen (pdf)


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    Criteria of this press release:
    Journalists
    Economics / business administration, Politics, Social studies
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Transfer of Science or Research
    German


     

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