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Wissenschaft
Forschenden der ETH Zürich ist es erstmals gelungen, aus menschlichen Stammzellen in der Petrischale hunderte verschiedene Typen von Nervenzellen herzustellen. Damit werden sich in Zukunft neurologische Krankheiten in Zellkultur statt im Tierversuch untersuchen lassen.
Nervenzelle ist nicht gleich Nervenzelle. Je nachdem, wie fein man unterteilt, gibt es nach neusten Berechnungen im menschlichen Gehirn mehrere Hundert bis mehrere Tausend verschiedene Typen von Nervenzellen. Sie unterscheiden sich unter anderem in ihrer Funktion, der Anzahl und Länge ihrer Zellfortsätze und ihrer Vernetzung. Auch sind die von ihnen in die Synapsen freigesetzten Neurobotenstoffe unterschiedlich, und je nach Region im Gehirn – etwa der Grosshirnrinde oder dem Mittelhirn – sind andere Zelltypen aktiv.
Wenn Wissenschaftler:innen bisher für ihre Experimente in der Petrischale aus Stammzellen Nervenzellen herstellten, dann war es ihnen nicht möglich, diese riesige Vielfalt zu berücksichtigen. Forschende haben bisher Protokolle entwickelt, um in vitro einige wenige Dutzend verschiedene Nervenzelltypen herzustellen. Dies gelang ihnen, indem sie mit Gentechnik oder durch die Zugabe von Signalmolekülen bestimmte zelluläre Signalwege aktivierten. An die Vielfalt der Hunderten oder Tausenden Nervenzelltypen kamen sie jedoch nie heran.
«Aus Stammzellen hergestellte Neuronen werden regelmässig verwendet, um Krankheiten zu erforschen. Bisher haben Forschende dabei aber oft ignoriert, mit welchen Neuronentypen sie genau arbeiten», sagt Barbara Treutlein, Professorin am Departement für Biosysteme der ETH Zürich in Basel. Allerdings sollte man das nicht. «Wenn man Zellkulturmodelle für Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson oder Depressionen entwickeln will, muss man berücksichtigen, welcher Typ von Nervenzelle in die Krankheit involviert ist.»
Systematisches Screening führte zum Erfolg
Treutlein und ihrem Team ist es nun gelungen, über 400 verschiedene Typen von Nervenzellen herzustellen. Damit legen die Wissenschaftler:innen die Basis für eine künftig präzisere neurologische Grundlagenforschung mittels Zellkulturexperimenten.
Die ETH-Forschenden arbeiteten dazu mit einer Kultur von umprogrammierten menschlichen Stammzellen, die zuvor aus Blutzellen gewonnen worden waren. In diesen Zellen aktivierten sie mittels Gentechnik bestimmte Steuerungs-Gene und sie behandelten die Zellen mit verschiedenen Stoffen, die der Signalmolekül-Klasse der Morphogene angehören. Treutlein und ihr Team gingen systematisch vor und setzten in ihren Experimenten sieben Morphogene in unterschiedlichen Kombinationen und Konzentrationen ein. So kamen fast 200 verschiedene Versuchsbedingungen zustande.
Morphogene
Morphogene sind aus der Erforschung der Embryonalentwicklung bekannte Botenstoffe. Sie sind in einem Embryo nicht gleichmässig verteilt, sondern kommen dort in unterschiedlichen Konzentrationen vor. Damit definieren sie für die Zellen die Position innerhalb des Embryos, etwa ob sich eine Zelle nahe der Körperachse, am Rücken, Bauch, Kopf oder Rumpf befindet. Auf diese Weise bestimmen Morphogene mit, was im Embryo wo wächst.
Dass sie in ihrem Experiment aus Stammzellen über 400 verschiedene Nervenzelltypen gewinnen konnten, zeigten die Forschenden anhand verschiedener Analysen: Sie untersuchten die RNA (und damit die Genaktivität) auf der Ebene einzelner Zellen ebenso wie das Aussehen der Zellen und ihre Funktion: etwa wie viele und welche Art von Zellfortsätzen sie besitzen und welche elektrischen Nervenimpulse sie abgeben.
Die Forschenden verglichen ihre Daten dann mit Informationen aus Datenbanken von Neuronen aus dem menschlichen Gehirn. So konnten sie bestimmen, um welche Typen von Nervenzellen es sich dabei handelt, etwa um solche des peripheren Nervensystems, des Gehirns und von wo im Gehirn, ob sie Schmerzen, Kälte oder Bewegung wahrnehmen und so weiter.
In-vitro-Neuronen für Wirkstoffforschung
Treutlein stellt klar, dass sie noch längst nicht alle Typen von Nervenzellen, die es gibt, in vitro erzeugt haben. Dennoch liegt den Forschenden nun im Vergleich zu vorher eine riesige Zahl an unterschiedlichen Zelltypen vor.
Mit ihren In-vitro-Nervenzellen möchten die Forschenden Zellkulturmodelle entwickeln, um bedeutende neurologische Erkrankungen wie Schizophrenie, Alzheimer, Parkinson, Epilepsie, Schlafkrankheiten oder Multiple Sklerose zu erforschen. Solche Zellkulturmodelle sind auch für die Pharmaforschung äusserst interessant, um in Zellkultur und ohne Tierversuche die Wirkung neuer Wirkstoffmoleküle zu testen, mit denen diese Krankheiten dereinst geheilt werden sollen.
Eine weitere künftige Anwendung könnte die Zellersatztherapie sein, bei der kranke oder abgestorbene Nervenzellen des Gehirns durch neue menschliche Zellen ersetzt werden.
Zunächst gilt es aber noch eine Herausforderung zu meistern: In ihren Experimenten erhielten die Forschenden oft eine Mischung aus mehreren Nervenzelltypen. Sie arbeiten nun daran, ihre Methode so zu optimieren, dass pro Versuchsbedingung nur noch ein definierter Zelltyp entsteht. Erste Ideen, wie das möglich sein wird, haben sie bereits.
Prof. Dr. Barbara Treutlein
Full Professor at the Department of Biosystems Science and Engineering
barbara.treutlein@bsse.ethz.ch
Lin HC, Janssens J, Eisinger B, Hornauer P, Kroell AS, Santel M, Pascual-Garcia M, Okamoto R, Karava K, He Z, Priouret M, Schröter M, Camp JG, Treutlein B: Human neuron subtype programming via single-cell transcriptome-coupled patterning screens. Science, 10. Juli 2025, doi: 10.1126/science.adn6121
https://ethz.ch/de/news-und-veranstaltungen/eth-news/news/2025/07/sehr-viel-mehr...
Ein Nervenzelltyp (gelb) von mehreren hundert, die die ETH-Forschenden im Labor aus Stammzellen erze ...
Source: H.-C. Lin und M. Santel
Copyright: ETH Zürich
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
Biology, Information technology
transregional, national
Research results, Transfer of Science or Research
German
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