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Wissenschaft
Der ostdeutsche Hochschul- und Wissenschaftsumbau in den 90er Jahren ist inzwischen nicht nur zu einem zeithistorischen Thema geworden, sondern weckt als solches auch Interesse: Die damaligen Prozesse werden zunehmend zum Gegenstand von Tagungen, Untersuchungen und Veröffentlichungen. Dabei ist das Interesse nicht allein zeitgeschichtlich motiviert: Der Wissenschaftsumbau gilt als einer der Vorgänge, die in ihrer Konfliktintensität herangezogen werden müssten, wenn man die anhaltenden Verwerfungen innerhalb der ostdeutschen Teilgesellschaft verstehen möchte.
Zweimal vier Kategorien sind in eine Gesamtbetrachtung einzubeziehen. Einerseits betraf der ostdeutsche Wissenschaftsumbau vier Segmente des bisherigen DDR-Wissenschaftssystems: die Hochschulen, die Akademien-Forschung, die Ressort- und die Industrieforschung. Andererseits hatte er nicht nur, wie es landläufige Wahrnehmungen erscheinen lassen, eine strukturelle und eine personelle Dimension (die beide abgeschlossen sind), sondern auch eine kulturelle und eine inhaltliche (beide mit bis heute immer wieder aktualisierten Wirkungen, z.B. hinsichtlich der Akzeptanz von und Resonanz auf Wissenschaft in den ostdeutschen Regionen). Diese Gesamtbetrachtung leistet Peer Pasternacks Neuerscheinung „Die vier Dimensionen des ostdeutschen Wissenschaftsumbaus ab 1990“.
Strukturell waren im Hochschulbereich die Einführung des Universitäts-Fachhochschule-Dualismus und deutliche Hochschulkapazitätserweiterungen zentral, im außeruniversitären Bereich die Wissenschaftsratsevaluationen, die Entwicklung der Blauen Liste zur WGL infolge der ostdeutschen Zugänge (knapp die Hälfte der WGL-Institute befindet sich in Ostdeutschland) und der weitgehende Verzicht auf die 77 Ressortforschungseinrichtungen, davon 47 naturwissenschaftliche bzw. medizinische, ohne Evaluationen sowie der Zusammenbruch der wirtschaftsgebundenen Forschung.
Am stärksten konfliktbeladen war innerhalb des Wissenschaftsumbaus der Personalumbau. Zum Ende der 90er Jahre waren 65 % des wissenschaftlichen Personals aus akademischen Beschäftigungsverhältnissen exkludiert. Unter Einbeziehung der Industrieforschung betrug der Wert 72 %.
Die neuen Strukturen und Personen transportierten auch neue Normen, abweichende Rekrutierungspfade und soziale Beziehungen in Gestalt informeller Netze. Es kam zu Kollisionen zwischen Ost und West, da in beiden Wahrnehmungskollektiven beständig Selbst- wie Fremdzuordnungen und Stereotype aktualisiert wurden. Zwar werden auch positive Kontakterfahrungen geschildert. Doch gibt es einen Indikator, der plausibel macht, warum dies seltener ist, als es die Problembeschreibungen sind. Dieser Indikator ist die am unteren Rande der Wahrnehmbarkeit verharrende Repräsentanz Ostdeutscher in akademischen Führungspositionen, die sich überdies bis heute nicht abbaut.
Inhaltlich war in den Geistes- und Sozialwissenschaften das wichtigste Ergebnis, dass eine Pluralisierung der Lehr- und Forschungsinhalte – insbesondere die Überwindung der Monokultur des Marxismus-Leninismus – vollbracht wurde. Da die Naturwissenschaften und Medizin im Regelfall keinen gesellschaftssystemspezifischen Referenzraum haben, konnten sie ihre Curricula und Forschungsprogramme nahezu bruchlos weiterführen. Unerwartet war aber, dass sich die ostdeutsche Wissenschaft in den 2000er Jahren überwiegend als leistungsgedämpft erwies. Erst seit Ende der 2010er Jahre verändert sich das Bild in Richtung Normalisierung, d.h. mit dem Ausscheiden der 90er-Jahre-Berufungskohorte.
Der ostdeutsche Wissenschaftsumbau ist sehr divers beschrieben worden: „Erfolgsstory“, „Wissenschaftskatastrophe“, „Kolonisierung auf Einladung“, „Erneuerung mit Bedauern“. Inzwischen gelten die Abläufe weithin als suboptimal, während ihre letztlichen Ergebnisse als akzeptabel bis positiv eingeschätzt werden. Unabhängig von solchen Bewertungen lässt sich festhalten: Es wurde eine – nicht zu vermeidende – Systemintegration der ostdeutschen Wissenschaft vollbracht, die allerdings nur sehr beschränkt mit einer Sozialintegration einherging.
Parallel zum Buch ist eine annotierte Bibliografie zum Thema erschienen. Sie weist 1.691 selbstständige Titel nach. Diese potenziell abschreckende Literaturfülle wird durch zweierlei rezipierbar gemacht: zum einen eine kluge Gliederung, insbesondere die Unterscheidung von „Prozessbegleitenden Publikationen“ sowie „Retrospektionen und Ergebnisdarstellungen“, zum anderen die optische Hervorhebung von fünf Prozent der Titel als besonders aussagekräftige.
Für Rückfragen wenden Sie sich bitte an:
Prof. Peer Pasternack, peer.pasternack@hof.uni-halle.de
Peer Pasternack: Die vier Dimensionen des ostdeutschen Wissenschaftsumbaus ab 1990. Strukturen und Personal, akademische Kultur und wissenschaftliche Inhalte, edition Albioris, Halle-Wittenberg 2025, 520 S., ISBN: 978-3-69059-005-1
https://www.hof.uni-halle.de/web/dateien/pdf/vier-dimensionen.pdf
Peer Pasternack: Der ostdeutsche Wissenschaftsumbau in den 1990er Jahren. Annotierte Bibliografie 1990–2024 (HoF-Arbeitsbericht 132), Institut für Hochschulforschung (HoF) an der Martin-Luther-Universität, Halle-Wittenberg 2025, 239 S., ISBN: 978-3-69059-004-4
https://www.hof.uni-halle.de/web/dateien/pdf/ab132.pdf
https://www.hof.uni-halle.de/projekte/die-vier-dimensionen-des-ostdeutschen-wiss...
Pasternack: Die vier Dimensionen des ostdeutschen Wissenschaftsumbaus ab 1990
Pasternack: Der ostdeutsche Wissenschaftsumbau in den 1990er Jahren
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Students
History / archaeology, Media and communication sciences, Politics, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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