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Warum verläuft Blutkrebs bei manchen Betroffenen besonders aggressiv? Forschende am Universitätsklinikum Ulm haben eine Mutation im sogenannten NOTCH1-Gen entdeckt, die den Verlauf der Chronischen Lymphatischen Leukämie (CLL) entscheidend beeinflusst. Das Besondere ist, dass diese Veränderung im nicht-kodierenden Bereich des Gens liegt. Die Mutation könnte künftig als Marker für eine rechtzeitige Behandlung von Erkrankten dienen. Die Ergebnisse wurden im renommierten Fachjournal Blood veröffentlicht und zeigen: Bislang wenig beachtete DNA-Abschnitte spielen eine viel größere Rolle für das Verständnis von Krankheiten, als gedacht.
Die Chronische Lymphatische Leukämie (CLL) ist die häufigste Form von Blutkrebs. Bei der Erkrankung vermehren sich B-Lymphozyten, die nicht – wie es normalerweise ihre Aufgabe ist –, spezifische Antikörper bilden, sondern gesunde Abwehrzellen verdrängen. CLL betrifft meist Menschen über 50 und entwickelt sich in vielen Fällen zunächst vergleichsweise langsam. Viele Patientinnen und Patienten mit CLL können nach der Diagnose noch längere Zeit ohne Therapie leben. Andere entwickeln jedoch vergleichsweise schnell Krankheitssymptome und müssen früher behandelt werden, was mit den entsprechenden Risiken und einer schlechteren Prognose verbunden ist. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Universitätsklinikums Ulm haben nun in einer Studie molekulare Mechanismen gefunden, die auf einen beschleunigten Krankheitsverlauf hinweisen. Fündig wurden die Forschenden bei einem alten Bekannten: dem Genschalter NOTCH1.
Doch die Entdeckung, die federführend von Forschenden einer Arbeitsgruppe an der Klinik für Innere Medizin I gemacht wurde, geht in eine völlig neue Richtung.
Klinische Daten brachten die Forschenden auf die richtige Spur
„Wir haben anhand klinischer Daten von CLL-Patientinnen und -Patienten eine bereits bekannte Störung des sogenannten NOTCH-Signalwegs genauer untersucht“, erklärt Professor Franz Oswald. Der Arbeitsgruppenleiter aus der Ulmer Klinik für Innere Medizin I hat die Studie koordiniert. Das NOTCH1-Protein sitzt auf der Oberfläche von Zellen und empfängt Signale von Nachbarzellen. Wenn ein Signal andockt, wird ein Teil des NOTCH-Rezeptors abgespalten und wandert in den Zellkern dieser Empfängerzelle. Dort reguliert NOTCH die Aktivität von Genen und entscheidet, ob sich die Zelle teilt oder weiterentwickelt. Normalerweise ist das NOTCH1-Protein sehr kurzlebig und wird nach erfüllter Aufgabe rasch wieder abgebaut. Bei der CLL ist dieser Abbau jedoch gestört.
„Uns war bereits bekannt, dass es Mutationen im kodierenden Bereich des NOTCH1-Gens gibt, also in dem Abschnitt der DNA, der den Bauplan für das Protein enthält. Solche Mutationen führen dazu, dass das Protein stabilisiert wird und damit länger aktiv bleibt“, sagt Oswald. „Dadurch werden genau solche Gene dauerhaft eingeschaltet, die das Wachstum von Krebszellen fördern. Überraschenderweise hat unsere Analyse von Patientendaten jetzt aber auch eine Mutation im nicht-kodierenden Bereich des NOTCH1-Gens aufgedeckt, die speziell mit schlechteren Überlebenschancen von Patienten einhergeht. Wir haben uns daher gefragt, wie sich diese Mutation auf der molekularen Ebene auf den Krankheitsverlauf auswirkt.“
Tumor trickst Abwehrmechanismen mit künstlichem Protein aus
Die Forschenden entdeckten, dass die Mutation im nicht-kodierenden Bereich des NOTCH1-Gens den Zuschnitt der NOTCH1-RNA verändert – mit dem Effekt, dass sich das ‚Endprodukt‘ verändert: Anstatt des NOTCH1-Proteins entsteht eine neue Variante des Genschalters: das sogenannte NOTCH1-152. „Dieses modifizierte Protein zeichnet sich durch eine perfide Eigenschaft aus“, erklärt Oswald. „Der neue Proteinabschnitt wirkt wie ein Magnet auf die Abbaumaschinerie, die eigentlich für das NOTCH1-Protein vorgesehen ist: Es entsteht also ein künstliches Protein, das die Abbauprozesse blockiert und somit das normale NOTCH1-Protein stabilisiert – so, als ob dieses selbst mutiert wäre. Dadurch fallen Kontrollmechanismen weg, die normalerweise das Krebswachstum bremsen.“
Um diese Vorgänge sichtbar zu machen, kombinierte das Forschungsteam verschiedene moderne Analysemethoden: Mithilfe der Gen-Schere CRISPR-Cas9 konnten gezielt Mutationen in Zellen eingeführt und ihre Folgen überprüft werden. KI-gestützte Programme berechneten die Schnittstellen in der RNA und machten so die Auswirkungen der Mutation nachvollziehbar.
Neuer Biomarker für die Therapie
„Bei Patientinnen und Patienten mit dieser Mutation sollte der Krankheitsverlauf besonders eng überwacht werden“, unterstreicht Dr. Min Guo. Die Ärztliche Wissenschaftlerin aus der Klinik für Innere Medizin I ist Erstautorin der Studie wie die Doktorandin Túgba Memis. Das Studienteam schlägt deshalb vor, das NOTCH1-152-Protein in der klinischen Praxis als Biomarker einzusetzen. Dieser könnte dabei helfen, den richtigen Zeitpunkt für den Therapiebeginn zu bestimmen. Denn ein wichtiges Ziel der ärztlichen Betreuung von Patientinnen und Patienten mit CLL ist es, eine Chemotherapie möglichst weit hinauszuzögern, weil diese doch gewisse Risiken birgt: Werden zu viele der krankhaften B-Lymphozyten vernichtet, kann dies das Gleichgewicht zwischen weniger und stärker bösartigen Zellklonen stören. Mögliche Folge: eine sehr aggressive Verlaufsform – die sogenannte Richter-Transformation – mit einer im Vergleich zur ursprünglichen CLL deutlich kürzeren Lebenserwartung.
Lange Zeit hat man Veränderungen in nicht-kodierenden Bereichen kaum oder überhaupt nicht beachtet, weil man davon ausging, sie hätten keine Bedeutung. „Unsere Studie belegt jetzt aber eindeutig, dass Mutationen nicht nur in den bekannten, kodierenden Abschnitten der Gene eine Rolle spielen. Vielmehr können vermeintlich nebensächliche Regionen des Genoms entscheidend zum Krankheitsverlauf beitragen. Wir sollten daher künftig viel genauer auch auf diese nicht-kodierenden Bereiche schauen. Hier könnten Antworten zum Verständnis schwerer Erkrankungen liegen“ sagt Professor Franz Oswald.
Beteiligt an der der Ulmer Leukämiestudie unter Federführung der Klinik für Innere Medizin I waren weitere Forschende der Ulmer Universitätsmedizin sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DKFZ, der Charité, der Uni Gießen, des Uniklinikums Köln und des Deutschen Roten Kreuzes.
Text: Christoph Karcher
Prof. Dr. Franz Oswald
Klinik für Innere Medizin I, Universitätsklinikum Ulm
E-Mail: franz.oswald@uni-ulm.de
Min Guo, Tugba Memis, Alena Sophie Ehrmann, Anselm Pittrof, Bernd Baumann, Francesca Ferrante, Eugen Tausch, Kirsten Fischer, Hartmut Döhner, Tilman Borggrefe, Stephan Stilgenbauer, Ulrich Pannicke, Klaus Schwarz, Daniel Mertens, Franz Oswald (2025): A noncoding mutation in the NOTCH1 gene initiates oncogenic NOTCH signaling via wild-type NICD stabilization in CLL. Blood. DOI: 10.1182/blood.2025028529
Strukturmodell der durch Mutation entstandenen Veränderung im NOTCH1-152-Protein
Source: Abb.: Franz Oswald
Copyright: Uniklinikum Ulm
v.l. Túgba Memis, Prof. Franz Oswald und Dr. Min Guo
Source: Sabine Schirmer
Copyright: Uniklinikum Ulm
Criteria of this press release:
Journalists
Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
transregional, national
Research results
German
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