idw - Informationsdienst
Wissenschaft
Die Lunge geschlachteter Schweine endet meist als Tierfutter oder wird gar entsorgt. Zwei Forschungsteams aus Medizin und Ingenieurwissenschaft haben an der Universität des Saarlandes ein Verfahren entwickelt, um solche „Schlachtabfälle“ als praxistaugliches und aussagekräftiges Lungen-Modell für die Forschung zu nutzen. Ziel ist es, Tierversuche zu ersetzen, zu reduzieren und diese sogar von deren Möglichkeiten und Aussagekraft her zu übertreffen. Die Mediziner halten die Lungen bis zu 24 Stunden stabil, was zuvor keiner anderen Gruppe weltweit gelungen ist. Die saarländische Landesregierung fördert die Forschung.
Das Forschungslabor erinnert nicht nur an eine Intensivstation, es ist eine – und zwar für ein einzelnes Organ. In der Mitte des Raumes steht ein Tisch mit blauem OP-Tuch, darauf ein großer Glaskasten, flankiert von etlichen medizinischen Apparaturen: Überwachungsmonitore zeigen Kurven an, Kabel und Schläuche führen von Herz-Lungen-Maschine, Beatmungsgerät und Infusionspumpen in die hintere Glaswand des Kastens. Seine Scheiben sind vor Feuchtigkeit im Inneren so beschlagen, dass die Schweinelunge in ihrer silbernen Schale zunächst nicht auszumachen ist. Erst nachdem eine Doktorandin die Befeuchtung kurz abstellt und den Nebel im Inneren wegfächelt, taucht die Lunge allmählich im Glaskasten auf. Sie stammt von einem sechs Monate alten Schwein, wirkt erstaunlich groß und hebt und senkt sich rhythmisch, wenn sie beatmet wird.
„Es handelt sich um ein lebendes Organ“, betont Professor Sascha Kreuer, „wir müssen die Lunge permanent befeuchten und ihren Stoffwechsel in Gang halten.“ Der Mediziner ist Professor an der Universität des Saarlandes und leitet das Labor für experimentelle Anästhesiologie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg. Gemeinsam mit Professor Thomas Volk, Direktor der Universitätsklinik für Anästhesiologie, und dem Experten für Gassensorsysteme Christian Bur arbeitet Kreuer daran, Tierversuche für die pharmazeutische und medizinische Forschung zu reduzieren und durch die lebende Lunge als neuartiges universelles, fachübergreifend nutzbares Testmodell zu ersetzen.
Als weltweit erster Forschungsgruppe ist es dem Team um Sascha Kreuer und Thomas Volk mit ihrem neuartigen Verfahren gelungen, die sonst als Schlachtabfall endenden Schweinelungen 24 Stunden lang zu stabilisieren – als lebendes Organ mit einem intakten Stoffwechsel. In Einzelfällen gelang dies sogar noch länger. „Zwölf bis 24 Stunden schaffen wir es in der Regel. Unser Ziel ist es, die Abläufe immer weiter so zu optimieren, dass wir die Organe standardmäßig 24 Stunden stabil halten“, sagt Sascha Kreuer. Viel Zeit, die für Versuche zur Verfügung steht. „Die Lunge verbraucht Glukose, hat einen Metabolismus. Und dadurch können wir an ihr unter lebensechten Bedingungen unter anderem Medikamente auf ihre Wirkung testen und in der Ausatemluft messen“, erklärt der Mediziner.
Morgens früh um vier Uhr, wenn das Forschungsteam die Lunge beim Metzger abholt, startet ein minutiös ausgefeilter Ablaufplan. Ebenso minutiös protokollieren die Forscherinnen und Forscher jeden ihrer Schritte, wann welche Testung erfolgt, wann sie welche Medikamente geben oder welche Maßnahmen treffen, um die Lungenfunktion aufrechtzuerhalten. Das Organ wird beatmet und durchblutet: Eine spezielle Vorrichtung ersetzt das Herz und pumpt exakt auf 37 Grad erwärmtes und bereits mit Kohlendioxid und Sauerstoff versetztes Schweineblut durch die Lungenarterie bis in das dichte Netz an kleinsten Blutgefäßen – bevor es wieder aus der Lungenvene in den Behälter der Pumpe fließt.
Universelle Forschungsplattform
„Wir schaffen mit dem Lungenmodell eine universelle Forschungsplattform, an der wir vielfältigere Tests möglich machen, als dies bei Versuchstieren der Fall wäre“, erklärt Klinikdirektor Thomas Volk, der den Lehrstuhl für Anästhesiologie der Universität des Saarlandes innehat. Unter echten Bedingungen lassen sich so etwa neue Wirkstoffe testen, zum Beispiel solche, die inhaliert werden: Dafür vernebeln die Mediziner das Inhalat direkt in der Lunge. Das Organ kann auch ausgespült und die Zusammensetzung der so gewonnenen Flüssigkeit analysiert werden. „Wir können auch Wirkstoffe dem Blut zusetzen, das die Lunge versorgt, und messen anschließend deren Konzentration berührungslos in der Ausatemluft. Dadurch können wir mit dem Modell etwa die individuelle Dosierung von Arzneistoffen erforschen und die Möglichkeiten der Medikamentenüberwachung erweitern“, sagt Sascha Kreuer.
Bislang werden Medikamentenspiegel meist über Blutanalysen bestimmt, was aufwändig und kostenintensiv ist und zu zeitversetzten Ergebnissen führt. Wenn sich mit dem Lungenmodell erforschen ließe, ob Medikamente in die Ausatemluft übergehen, wäre dies der erste Schritt hin zu einer berührungsfreien, schnellen und einfachen Atemgasanalyse. „Auch ein Modell für eine Lungeninfektion wird möglich. Wir können Teile des Organs mit Erregern infizieren, um im Anschluss Ausatemluft oder Gewebe zu untersuchen“, ergänzt Thomas Volk.
Bei ihrer Forschung kooperieren die Mediziner mit anderen Fachdisziplinen der Universität des Saarlandes. „Die Zusammenarbeit etwa mit den Lehrstühlen für klinische Pharmazie und medizinische Mikrobiologie bereichern das Projekt. Wir erweitern diese Kooperationen zurzeit um weitere Arbeitsgruppen“, sagt Sascha Kreuer.
Für die Entwicklung der Lungen-Forschungsplattform wurde das Team um Thomas Volk, Sascha Kreuer und Christian Bur im vergangenen Jahr mit dem saarländischen Forschungspreis zur Vermeidung von Tierversuchen ausgezeichnet.
Analyse der Ausatemluft
Die Analyse der Ausatemluft ist Forschungsschwerpunkt von Professor Sascha Kreuer. Ihm war es in mehrjähriger Forschung gelungen, das Verfahren, mit dem das Narkosemittel Propofol in der Atemluft gemessen wird, zu optimieren. „Auch mit dem Lungenmodell konnten wir zeigen, dass Propofol von der Lunge verstoffwechselt werden kann. Dies wurde bisher vermutet, konnte aber nicht nachgewiesen werden“, erklärt Sascha Kreuer. „Wir können in der Ausatemluft unseres Lungenmodells generell die Konzentration von Wirkstoffen oder ihrer Abbauprodukte messen. Darauf basierend errechnen wir die Konzentration im Blutplasma und ziehen Rückschlüsse auf die Wirkung oder eine individualisierte Dosierung“, erklärt der Forscher.
Das Forschungsteam entwickelt seit rund drei Jahren das gesamte neuartige Verfahren rund um die Lungen-Forschungsplattform – es gab kaum Erfahrungswerte, auf die sie zurückgreifen konnten. Zum einen erarbeiteten die Mediziner die zahlreichen einzelnen Handlungsschritte, um die Lunge zu versorgen. Zum anderen stimmte das Team in seinen Experimenten sämtliche technischen Vorrichtungen auf das Verfahren ab – bis hin zu den maßgefertigten Verbindungsanschlüssen zwischen Technik und Lunge und den ausgefeilten Messmethoden zur Analyse der Ausatemluft. Hier kommt Christian Bur ins Spiel, der promovierte Ingenieur forscht am Saarbrücker Lehrstuhl für Messtechnik im Team von Professor Andreas Schütze: Die Ingenieure sind spezialisiert auf Gasmesstechnik und die dazu gehörende Künstliche Intelligenz.
Gassensorsystem
„Die sensortechnische Herausforderung in diesem Projekt liegt darin, die Substanzen in sehr geringen Konzentrationen zu messen. Die Ausatemluft besteht aus einem regelrechten Cocktail an vielen verschiedenen gasförmigen Stoffen, von Kohlendioxid, Stickstoff bis hin zu einer Vielzahl kleinster Spuren an Substanzen, die von Mensch zu Mensch und von Tier zu Tier variieren“, erklärt Christian Bur, der an neuartigen Gassensorsystemen forscht, um flüchtige organische Verbindungen immer genauer zu erfassen.
Die technischen Sinnesorgane des Saarbrücker Forschungsteams kommen dabei einzelnen Molekülen unter Milliarden Luftmolekülen auf die Spur: In einem ganzen Universum an Teilchen erfassen sie bestimmte einzelne Gasteilchen und messen ihre Konzentration. Das Team überwacht hiermit normalerweise Innenräume auf Schadstoffe und Luftreinheit, erkennt Undichtigkeiten oder bewertet die Qualität von Lebensmitteln. Nun findet Christian Bur mit den feinen Technik-Sinnesorganen kleinste Spuren im Atemgas des Lungenmodells. „Dafür messen die Sensoren kontinuierlich die Konzentration bestimmter Substanzen und geben so Aufschluss über die in einem Zeitraum abgeatmete Menge. Zum Einsatz kommen hierfür Halbleitergassensoren auf Metalloxid-Basis. Ihre Signalauswertung verfeinern wir immer weiter“, erläutert Christian Bur.
An der Forschung sind auf medizinischer wie auch auf technischer Seite zahlreiche Doktorandinnen, Doktoranden und auch Studierende beteiligt.
Bereits zwei aufeinander folgende Förderungen bewilligte das saarländische Wirtschaftsministerium für die Lungen-Forschungsplattform: Im Rahmen des Landesforschungsförderungsprogramms unterstützte das Saarland den Aufbau des Testmodells, seit August wird nun das Folgeprojekt gefördert, bei dem die Forschungsteams viele der Verfahrensschritte automatisieren wollen.
Die Arbeitsgruppen gehören mit ihrem Projekt der „3R-Plattform Saar“ an: Auf Initiative der Universität des Saarlandes haben sich auf dieser Plattform zahlreiche Partner zusammengeschlossen mit dem Ziel, Tierversuche zu vermeiden, zu vermindern und zu verbessern (replace, reduce, refine, also „3R“). Die Plattform erfasst systematisch im Saarland vorhandene Ersatzmethoden für Tierversuche, macht sie sichtbar und vernetzt Forscherinnen und Forscher.
Prof. Dr. med. Sascha Kreuer (Klink für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes)
Tel.: +49 6841 16-26915 E-Mail: sascha.kreuer(at)uks.eu
Prof. Dr. med. Thomas Volk (Lehrstuhl für Anästhesiologie der Universität des Saarlandes und Direktor der Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie am Universitätsklinikum des Saarlandes)
Tel.: +49 6841 16-22485, E-Mail: thomas.volk(at)uks.eu
Dr.-Ing. Christian Bur (Habilitand und Gruppenleiter für Gasmesstechnik am Lehrstuhl für Messtechnik, Universität des Saarlandes)
Tel.: 0681-302/2256, E-Mail: c.bur(at)lmt.uni-saarland.de
Doktorandin Nadine Heck bereitet die gerade eingetroffene Schweinelunge für die intensivmedizinische ...
Source: Laura Glücklich
Copyright: Universität des Saarlandes
Professor Sascha Kreuer (rechts) und Christian Bur (links) entwickeln gemeinsam neuartige Messmethod ...
Source: Laura Glücklich
Copyright: Universität des Saarlandes
Criteria of this press release:
Business and commerce, Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
Biology, Electrical engineering, Mechanical engineering, Medicine
transregional, national
Research results
German
You can combine search terms with and, or and/or not, e.g. Philo not logy.
You can use brackets to separate combinations from each other, e.g. (Philo not logy) or (Psycho and logy).
Coherent groups of words will be located as complete phrases if you put them into quotation marks, e.g. “Federal Republic of Germany”.
You can also use the advanced search without entering search terms. It will then follow the criteria you have selected (e.g. country or subject area).
If you have not selected any criteria in a given category, the entire category will be searched (e.g. all subject areas or all countries).