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In knapp einem Jahr wird es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule geben. Von der ersten Klasse an haben dann alle Schüler*innen die Möglichkeit auf ganztägige Förderung, 40 Stunden pro Woche.
Während die Umstellung Schulen vor große Herausforderungen stellt bietet die Neuerung auch große Chancen für gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Entwicklung.
Anlässlich der vom Pestalozzi-Fröbel-Verband e.V. (pfv) ausgerichteten Bundesfachtagung am 26. und 27. September 2025 zu Chancengleichheit durch frühkindliche Bildung in Bamberg bewertet Expertin Prof. Anke König den kommenden Rechtsanspruch.
> > > Das Interview mit allen darin genannten Berichten und Quellen zum Download finden Sie auf Wissenschaft-im-Norden.de, dem Wissenschaftsportal der Universität Vechta.
• Frau König, auf der Bundesfachtagung des pfv wird unter dem Thema „Chancengerechtigkeit durch frühkindliche Bildung“ diskutiert. Wie genau steht diese Form der Bildung mit Chancengerechtigkeit in Verbindung?
Seit der Post-PISA-Debatte steht die frühe Bildung wieder im Fokus der Bildungspolitik. Anglo-amerikanische Längsschnittstudien zeigen deutlich: Pädagogische Praxis in den ersten Lebensjahren entfaltet eine besonders große Wirkung und beeinflusst die Bildungsbiografien von Kindern nachhaltig. Entscheidend ist dafür die Qualität in Krippen, Kindertageseinrichtungen und Familienzentren. In Bamberg werden in diesem Zusammenhang vor allem neuere wissenschaftliche Erkenntnisse aufgegriffen.
Zugleich ist jedoch bekannt, dass gute frühe Bildung oft nicht jene Kinder erreicht, für die sie am wichtigsten wäre. Die Politik muss daraus lernen und durchgängige Bildungslandschaften von der Kita bis zur Schule für alle Kinder ermöglichen. Denn Bildung wird in Deutschland zu stark von sozialer Herkunft bestimmt und häufig noch isoliert von Institution zu Institution gedacht. Der neue Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung muss hier zum Wendepunkt werden.
• Der neue Rechtsanspruch soll große Chancen bieten: Die Friedrich Ebert Stiftung schreibt „…für die Gestaltung des Lebensraums Schule“. Was ist die Vision dahinter?
Wie in der frühen Bildung gilt auch für den schulischen Ganztag: Erst unter qualitativ guten Rahmenbedingungen kann die soziale Herkunft für den Bildungserfolg an Bedeutung verlieren. Die Friedrich-Ebert-Stiftung betont dabei, dass Bildung zugleich ein zentraler Faktor für gesellschaftlichen Zusammenhalt ist. Schulen sind demokratische Orte, an denen sich theoretisch alle Kinder und Familien – unabhängig von ihrer Herkunft – begegnen. Gerade in unserer zunehmend digitalen Welt gewinnen daher diese Orte nochmals an Bedeutung.
• Gleichzeitig stellt der kommende Rechtsanspruch das Bildungssystem und die Bundesländer vor enorme Herausforderungen. Wodurch entstehen neue Belastungen?
Die Belastungen entstehen auf mehreren Ebenen und verbinden – wie bereits im Kita-Bereich – familien- und bildungspolitische Fragestellungen. Auf kommunaler Ebene stehen die Verantwortlichen vor der Aufgabe, den Rechtsanspruch organisatorisch zu erfüllen. Dabei hängt die Nachfrage nach Ganztagsplätzen stark von den Bedürfnissen der Familien ab – und diese sind wiederum eng mit der sozialen Herkunft der Kinder verknüpft.
Gleichzeitig steht die Bildungspolitik der Länder vor der Aufgabe, den Anspruch nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ umzusetzen.
• Vor allem die Schulen müssen liefern: In jeder Schule entsteht ein eigenes Ganztagskonzept. Ist es aus Ihrer Sicht ein Vorteil, passgenaue Konzept zu bekommen oder überlastet das die Schulen?
Ja und nein. Passgenaue Konzepte sind zweifellos entscheidend, brauchen aber auch einen offenen Zugang in die breite Bildungslandschaft der Region. Aus sogenannten Ganztagsschulen dürfen keine geschlossenen Institutionen werden. Das erklärt, weshalb es so wichtig ist, dass hier alle Akteur*innen zusammen wirken und vor allem auch Erfahrungsressourcen u.a. der Jugendämter, der offenen Kinder- und Jugendarbeit und der Schulen verknüpft und geteilt werden.
Entscheidend ist die Offenheit aller Pädagog*innen gegenüber den Kindern und ihren Erfahrungshintergründen. Erst wenn Kinder sich in ihren Bildungsorten wiederfinden, können pädagogische Reformansätze die Wirksamkeit entfalten, die ihnen zugeschrieben wird.
• Einen solchen Rechtsanspruch kennen wir ja bereits aus der Betreuung der Jüngsten im Bereich U3. Welche Erfahrungen haben wir bereits aus diesem Anspruch?
Trotz der Einführung von Rechtsansprüchen auf einen Kindergartenplatz 1996 und einen Krippenplatz vor gut 10 Jahren ist Chancengerechtigkeit bis heute nicht erreicht. Es zeigen sich aufgrund des begrenzten Platzangebots Ungleichheiten beim Zugang: Die Platzvergabe ist häufig an die Erwerbstätigkeit beider Eltern gebunden, sodass vor allem Familien mit einem höheren Bildungsniveau profitieren. Hinzu kommt, dass gerade jene Kitas, die überwiegend von Kindern aus sozio-ökonomisch benachteiligten Familien besucht werden, oftmals eine geringere Qualität aufweisen.
Mit Blick auf die Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Ganztagsförderung für Schulkinder ab 2026 drohen sich diese blinden Flecken fortzuschreiben. Daher sind Länder, Kommunen und Träger dringend aufgefordert, ihre Bildungslandschaften kritisch zu hinterfragen. Es reicht nicht, allein formale Rechtsansprüche zu sichern. Vielmehr gilt es, Orte für Kinder zu schaffen, die ihnen vielfältige und auch inspirierende Lebens- und Bildungserfahrungen ermöglichen.
• Rechtlich ist der zukünftige Anspruch für die Schulen ebenfalls gekoppelt an das Kindertagesstättengesetz. Was steckt dahinter?
Tatsächlich ist der Rechtsanspruch an den Förderauftrag nach §22–24 SGB VIII gekoppelt. Damit gilt für den schulischen Ganztag – wie für die Kita – die Trias Bildung, Erziehung und Betreuung. Dieser Auftrag ist an die Logik der Kinder- und Jugendhilfe gebunden. Rechtswissenschaftler*innen befürchten allerdings, dass er bei der Umsetzung durch die Schulen nicht hinreichend berücksichtigt wird.
Johannes Münder hat in seiner Rechtsexpertise für den AWO Bundesverband sechs zentrale Qualitätsdimensionen herausgestellt, die hier Maßstab sein müssen: das Wohlbefinden der Kinder, die aktive Beteiligung der Eltern, Vielfalt und Qualität der Angebote, Anforderungen an die Räumlichkeiten sowie Kooperation.
• Entsprechend befürchtet man nach der Einführung eine Klagewelle der Eltern. Ist das Gesetz nicht gut genug an die Realitäten von Familien angepasst?
Der Rechtsanspruch ist gesellschaftlich überfällig. Denn Eltern haben sich über die Kita-Zeit an eine Ganztagseinrichtung gewöhnt. Sie schätzen die Verlässlichkeit und Passgenauigkeit der Angebote nach dem Kinderbetreuungsreport 2024. Der Kita-Ausbau schiebt so gesehen den Ganztagsausbau für Kinder im Schulalter.
Bedarf und Wirklichkeit stimmen für Eltern allerdings noch nicht überein und es zeigen sich große Diskrepanzen bei den Bedarfen: in Ostdeutschland 88 Prozent, in Westdeutschland 58 Prozent - wie zum Beispiel der Bildungsbericht 2024 zeigt.
• Vielen Dank für das Gespräch, Frau König.
Prof. Dr. Anke König, Universität Vechta
Pro. Dr. Anke König, Universität Vechta
Source: Friedrich Schmidt
Copyright: Universität Vechta
Criteria of this press release:
Journalists, Scientists and scholars, Teachers and pupils
Law, Social studies, Teaching / education
transregional, national
Schools and science, Scientific conferences
German
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