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12/19/2025 15:20

Herbert-Lewin-Preis würdigt Forschung zu Lebensgeschichten in der Psychiatrie im Nationalsozialismus

Friederike Süssig-Jeschor Pressestelle
Universitätsmedizin Magdeburg

    Magdeburger Medizinhistorikerin zeigt, wie fünf Menschen im annektierten Elsass zwischen 1941 und 1944 psychiatrische Behandlung, Ausgrenzung und Gewalt erlebten

    Die Medizinhistorikerin und Ärztin Dr. med. Dr. phil. Lea Münch aus dem Bereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin der Medizinischen Fakultät der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg ist mit dem Herbert-Lewin-Preis ausgezeichnet worden. Der Preis würdigt Forschungsarbeiten zur Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus. In ihrer zweiten Dissertation rekonstruiert Münch die Lebenswege von fünf Menschen, die in den Jahren 1941 bis 1944 im annektierten Elsass psychiatrische Einrichtungen durchlaufen mussten. Die Untersuchung zeigt, wie unterschiedlich die Betroffenen diese Erfahrungen erlebten, von belastenden Behandlungen über die Ausgrenzung aus Familien bis hin zu Zwangsarbeit und tödlicher Gewalt in der NS-Zeit.

    Fünf Lebenswege als Fenster in den Klinikalltag der NS-Zeit

    Während über die deutsche und französische Psychiatrie während des Zweiten Weltkrieges bereits viele Studien vorliegen, fehlten bisher grundlegende Erkenntnisse dazu, wie Patientinnen und Patienten selbst die Behandlung und die Bedingungen vor Ort erlebt haben. Münch wertete dafür Krankenakten, Briefe, Transportlisten, Fotos und Gespräche mit Angehörigen aus.

    Die porträtierten Personen – eine Opernsängerin, eine ukrainische Zwangsarbeiterin, ein Gärtner, eine junge Mutter und ein elsässischer Fabrikarbeite – bieten unterschiedliche Perspektiven auf den psychiatrischen Alltag zwischen 1941 und 1944. Die Erfahrungen reichen von Elektroschockbehandlungen, die damals als moderne Therapie galten, über langjährige Unterbringung bis hin zur Deportation in die Tötungsanstalt Hadamar. 100 Menschen aus dem Elsass wurden dorthin gebracht, nur drei überlebten.

    „Viele dieser Menschen hatten nie die Möglichkeit, ihre Erlebnisse zu erzählen oder Gehör zu finden. Unsere Aufgabe als Forschende ist es, ihre Erfahrungen sichtbar zu machen und zu zeigen, welche Konsequenzen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft auf ihr individuelles Erleben von Krankheit hatten“, sagt Münch.

    Die Geschichte des Fabrikarbeiters Alphonse Glanzmann zeigt dies besonders deutlich. Er überlebte die Morde in Hadamar, doch seine Erlebnisse wurden nach seiner Rückkehr aus seiner Biographie und aus seiner Krankengeschichte ausgeblendet. „Viele Angehörige wussten nicht, was ihren Verwandten widerfahren war. Das Schweigen setzte sich oft über Generationen fort“, erklärt Münch.

    Was die Forschung über den Klinikalltag offenlegt

    Die Untersuchung zeigt, wie unterschiedlich psychiatrische Einrichtungen funktionierten. In der Psychiatrischen Klinik der sogenannten „Reichsuniversität” Straßburg wurden Elektroschockbehandlungen ab 1942 häufig angewendet. In rund 15 Prozent der Fälle wurden Patientinnen und Patienten in Heil- und Pflegeanstalten in der ländlichen Peripherie verlegt. Auch die nationalsozialistische Zwangsarbeitspolitik spiegelte sich im Klinikalltag wider: Mindestens 27 Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter wurden behandelt, ohne dass ihre Lebensbedingungen in Diagnosen einflossen.
    Viele Quellen stammen aus Sicht der behandelnden Ärztinnen und Ärzte. Erst die Gespräche mit Angehörigen ermöglichten eine vollständigere Rekonstruktion. „Die Krankenakten erzählen nur einen Teil der Geschichte. Erst durch die Auswertung weiterer Quellen und den Dialog mit Angehörigen wurde eine annähernde Rekonstruktion der Lebenswege möglich, die über den Aufenthalt in der Psychiatrie hinausreichen“, so Münch.

    Warum die Ergebnisse heute wichtig sind

    Die Untersuchung zeigt, wie lange Betroffene und ihre Familien unsichtbar blieben, teils bis in die 1980er-Jahre. Im Elsass dauerte es besonders lange, da Grenzverschiebungen und Konflikte zwischen Frankreich und Deutschland das Erinnern erschwerten.

    „Wenn wir verstehen wollen, wie Ausgrenzung entsteht, müssen wir auch die Geschichten der Menschen kennen, die damals als ‚anders‘ galten“, betont Münch. Die Biografien verweisen auf die Konsequenzen, die eine faschistische Diktatur für Personen haben kann, die in welcher Weise auch immer als andersartig und fremd angesehen werden. „Angesichts des Erstarkens rechter und rechtsradikaler Bewegungen in Europa erscheint mir die Aufmerksamkeit für ihre Lebenswege als besonders dringlich”, so Münch.

    Vor diesem Hintergrund bieten die Forschungsergebnisse, also alles was man über diese Menschen, über ihr bisher verborgenes und unsichtbares Leben sowie über die generationsübergreifenden Auswirkungen, erfahren hat, eine Grundlage für die Gestaltung einer europäischen Erinnerungskultur. Die Integration in diverse öffentliche Gedenkstätten ist angedacht. Zudem plant Münch, ihre Dissertation ins Französische übersetzen zu lassen. „Ich möchte, dass die Familien der Betroffenen Zugang zu diesen Geschichten bekommen, über Ländergrenzen hinweg“, sagt sie.

    Die Dissertation entstand im Rahmen der unabhängigen, internationalen historischen Kommission zur Geschichte der Medizinischen Fakultät der „Reichsuniversität“ Straßburg (1941–1944) und wurde von der Université de Strasbourg finanziert. Die Vergabe des Herbert-Lewin-Preises erfolgt gemeinsam vom Bundesministerium für Gesundheit, der Bundesärztekammer, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Bundeszahnärztekammer und der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung.

    Foto: Verleihung des 10. Herbert-Lewin-Preises 2025: Gratulation an Medizinhistorikerin Dr. med. Dr. phil. Lea Münch (r.) von der Universität Magdeburg durch Dr. Romy Ermler (l.), Präsidentin der Bundeszahnärztekammer und Jurymitglied Prof. Dr. Volker Hess (Mitte), Leitung des Instituts für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Fotograf: BZÄK/axentis.de


    Contact for scientific information:

    Dr. med. Dr. phil. Lea Münch, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Bereich Geschichte, Ethik und Theorie der Medizin, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg, lea.muench@med.ovgu.de


    Original publication:

    Die Arbeit erscheint im Januar 2026 unter dem Titel „Psychiatrieerfahrungen im Elsass. Lebensgeschichten zwischen Strasbourg und Hadamar im Nationalsozialismus” im Brill-Verlag


    Images

    Verleihung des 10. Herbert-Lewin-Preises 2025 an Medizinhistorikerin Dr. med. Dr. phil. Lea Münch.
    Verleihung des 10. Herbert-Lewin-Preises 2025 an Medizinhistorikerin Dr. med. Dr. phil. Lea Münch.
    Source: BZÄK/axentis.de
    Copyright: BZÄK/axentis.de


    Criteria of this press release:
    Journalists, Scientists and scholars, all interested persons
    History / archaeology, Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Social studies
    transregional, national
    Miscellaneous scientific news/publications, Research results
    German


     

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