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05/28/1997 00:00

Situation pflegender Angehöriger in Deutschland

Dr.rer.pol. Dipl.-Kfm. Ragnwolf Knorr Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Medizinische Psychologie

    Situation pflegender Angehoeriger in Deutschland

    57 Prozent aller Bundesbuerger, die zu Hause einen Angehoerigen regelmaessig pflegen, haben einen dringenden Bedarf an Entlastung. Das ergab eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft unterstuetzte Studie, die unter Leitung von Dr. med. Elmar Graessel in der Abteilung fuer Medizinische Psychologie und Psychopathometrie im Laufe der letzten drei Jahre erarbeitet wurde. Damit eine moegliche Entlastung auch wirklich als solche empfunden wird, muessen die individuellen Wuensche der Pflegeperson unbedingt beruecksichtigt werden. Die Hilfe sollte sich dabei nicht auf Pflegeschulung und finanzielle Unterstuetzung beschraenken. Anerkennung, Hilfe bzw. mehr Hilfe durch Familienmitglieder und insbesondere auch Rat und Information durch den Arzt sind genauso wichtig, so das Ergebnis der Studie mit dem Titel "Belastung und gesundheitliche Situation der Pflegenden. Querschnittuntersuchung zur haeuslichen Pflege bei chronischem Hilfs- oder Pflegebedarf im Alter."

    Derzeit gibt es in der Bundesrepublik Deutschland 1,2 Millionen Menschen mit regelmaessigem Pflegebedarf, die zu Hause versorgt werden. Dem steht eine Aufnahmekapazitaet von rund 350.000 Plaetzen zur Langzeitbetreuung Pflegebeduerftiger gegenueber. Hilfe und Pflege fuer aeltere Menschen wird also groesstenteils von nichtprofessionellen, familiaeren Pflegepersonen geleistet. Die Situation der haeuslichen Pflege wird sich in Zukunft zuspitzen, da die Anzahl pflegebeduerftiger Menschen zunehmen wird, die nachfolgenden Generationen zahlenmaessig jedoch abnehmen werden.

    Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) foerderte deshalb das Projekt der Abteilung fuer Medizinische Psychologie und Psychopathometrie der Universitaet Erlangen-Nuernberg, um einerseits die Variablen herausfinden zu koennen, die die haeusliche Pflege foerdern und andererseits die "Praediktoren" zu ermitteln, die zum Abbruch der haeuslichen Pflegesituation und zur Pflege im Heim fuehren. Befragt wurden 1.000 pflegende Angehoerige mit Hilfe eines standardisierten Fragebogens ein und zwei Jahre nach der Erstbefragung. Die Ergebnisse werden dazu beitragen, haeusliche Pflege gezielter und effizienter foerdern zu koennen.

    Ziel der Untersuchung war es, verallgemeinerbare Aussagen ueber die gesundheitliche Situation der Hauptpflegepersonen im Vergleich zur Allgemeinbevoelkerung und ueber ihre Belastung zu erhalten. (Hauptpflegeperson ist die nicht professionelle Pflegeperson, die den gesamten Umfang bzw. den groessten Anteil an der haeuslichen Pflege leistet). Zusaetzlich wurde unter anderem ermittelt, wie haeufig bestimmte Arten von Wuenschen nach Hilfe und Entlastung vorkommen.

    Zur Methodik

    Der 16seitige, groesstenteils standardisierte Fragebogen wurde den Pflegepersonen, die sich auf Anzeigen in einem Apotheken-Magazin und einer in Arztpraxen ausliegenden Informationszeitschrift meldeten, per Post zugesandt oder ueber Kontaktpersonen (z.B. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Sozialstationen) weitergeleitet.

    In die Auswertung einbezogen wurden nur Angaben von den Pflegepersonen, bei denen es mit der Pflege "ernst wird", d.h., die Hilfs- oder Pflegeleistungen im Bereich 'Koerperpflege' und/oder 'Nahrungsaufnahme' und/oder 'Toilettenbenutzung/Inkontinenz' und/oder 'koerperliche Mobilitaet/Bettlaegrigkeit' erbringen. Ausserdem durfte die Ursache der Pflegebeduerftigkeit nicht angeboren oder vor dem 18. Lebensjahr erworben worden sein.

    Zwischen Oktober 1994 und April 1995 wurden auf diese Weise bundesweit 1911 Pflegepersonen befragt.

    Ergebnisse

    Subjektive Belastung Lediglich 24 Prozent der Pflegepersonen fuehlen sich nicht oder nur gering belastet. 61 Prozent sind als mittelgradig belastet und 15 Prozent als stark oder sehr stark belastet einzustufen. Inhaltlich resultiert die Belastung aus dem zeitlichen Eingebundensein und der koerperlichen Beanspruchung durch die Pflegetaetigkeit. Auch Konflikte mit anderen Familienmitgliedern aufgrund der Pflege sowie mit eigenen Zukunftsplaenen stellen bedeutsame Belastungsquellen dar. Dagegen wird das Verhaeltnis zur pflegebeduerftigen Person oder die pflegerischen Taetigkeiten selbst nur selten als Ursache der Belastung empfunden.

    Ausmass koerperlicher Beschwerden Bei der standardisierten Erfassung koerperlicher Beschwerden besteht die Moeglichkeit, das Ausmass mit dem der Allgemeinbevoelkerung zu vergleichen. Demnach haben fast 50 Prozent koerperliche Beschwerden, die ueber dem Durchschnittswert liegen. Im Vergleich zu den alters- und geschlechtsspezifischen Normwerten der Allgemeinbevoelkerung zeigen Pflegepersonen durchschnittlich signifikant ausgepraegtere koerperliche Beschwerden (Giessener Beschwerdebogen). Dies gilt nicht nur fuer Symptome koerperlicher Erschoepfung und Gliederschmerzen (74 Prozent bzw. 75 Prozent der Pflegepersonen mit ueberdurchschnittlichem Beschwerdenumfang), sondern auch fuer Magen- und Herzbeschwerden (60 Prozent bzw. 64 Prozent mit ueberdurchschnittlichem Beschwerdenumfang).

    Zwischen dem Ausmass der subjektiven Belastung und der koerperlichen Beschwerden besteht ein auffaelliger Zusammenhang. Aufgrund eingehender statistischer Ueberlegungen zeigt sich, dass dieser Zusammenhang groesstenteils kausaler Art ist. Es handelt sich um eine Wechselwirkung psychosomatischer Art. Eine Veraenderung der Belastung fuehrt haeufig zu einer gleichsinnigen Veraenderung der Beschwerden und umgekehrt.

    Wuensche der Pflegepersonen Laesst man die Pflegepersonen angeben, welche der vorgegebenen Massnahmen ihnen die Pflege erleichtern wuerden, ergeben sich fuenf Gruppen von Wuenschen, die unabhaengig voneinander auftreten: - 53 Prozent wuenschen sich mehr nicht professionelle praktische Hilfe, d.h. Hilfe bei der Pflege und/oder bei sonstigen Alltagsaufgaben durch Familienmitglieder, Verwandte oder Freund; - 44 Prozent wuenschen sich mehr professionelle praktische Hilfe bei der Pflege, d.h. professionelle Helfer, die ins Haus kommen und/oder Tagespflege und/oder Kurzzeitpflege; - 38 Prozent wuenschen sich mehr strukturelle Hilfe bei der Pflege, d.h. auf die Pflegebeduerfnisse ausgerichtete Wohnungsumgestaltung und/oder Pflegehilfsmittel und/oder Schulung in Pflegetaetigkeiten; - 69 Prozent wuenschen sich mehr Anerkennung der Pflegetaetigkeit, sei es ideell und/oder materiell durch direkte finanzielle Zuschuesse und/oder den Erwerb von Rentenanspruechen und - 25 Prozent wuenschen sich mehr medizinische Information und Beratung durch den Haus- und/oder einen Facharzt.

    Resuemee

    Wenn Hilfeleistungen in fundamentalen Alltagsaktivitaeten wie Koerperpflege, Toilettenbenuetzung etc. erbracht werden muessen ("koerpernaher" Pflegebedarf), dann zeigen 13 Prozent eine sehr ernst zu nehmende Einschraenkung ihrer Lebensqualitaet, da sie sich psychisch stark bis sehr stark belastet fuehlen und weit ueberdurchschnittlich stark ausgepraegte koerperliche Beschwerden aufweisen (d.h. zwei Drittel der geschlechts- und altersentsprechenden Allgemeinbevoelkerung hat einen geringeren Beschwerdenumfang). Ausserdem weisen weitere 44 Prozent noch einen "Risikofaktor" in Form starker bis sehr starker subjektiver Belastung oder weit ueberdurchschnittlich ausgepraegter koerperlicher Beschwerden auf. Immerhin ist bei 43 Prozent der Pflegepersonen trotz "koerpernahen" Pflegebedarfs und durchschnittlich dreijaehriger Pflegedauer kein derartiger Risikofaktor festzustellen. Diesen Pflegepersonen ist es einigermassen erfolgreich gelungen, sich an die Gegebenheiten der haeuslichen Pflege eines chronisch kranken, aelteren Menschen anzupassen.

    Somit besteht bei 57 Prozent ein dringender Entlastungsbedarf. Wenn Hilfe Erfolg haben soll, muessen die individuellen Wuensche der Pflegeperson unbedingt beruecksichtigt werden. Hilfe sollte sich nicht auf Pflegeschulung und finanzielle Unterstuetzung beschraenken. Anerkennung der Pflege, Hilfe bzw. mehr Hilfe durch Familienmitglieder und insbesondere auch Rat und Information durch den Arzt sind genauso wichtig. Da zwischen der subjektiven Belastung der Pflegeperson auf der einen Seite und dem Ausmass der sozialen Verhaltensstoerungen (Gereiztheit, Aggressivitaet etc.) der pflegebeduerftigen Person, der Zahl der Erkrankungen der Pflegeperson, der Zeitspanne, die sie nachts ungestoert schlafen kann, und der Dauer der taeglichen Pflegetaetigkeiten auf der anderen Seite signifikante multiple Korrelationen bestehen, stellen diese Umstaende die vielversprechendsten Ansatzpunkte zur Entlastung dar. Die durchschnittliche Dauer der taeglichen Pflege koennte durch verschiedenartige Hilfe, etwa durch Familienmitglieder, professionelle Pflegehelfer, Tages- und Kurzzeitpflege, wirksam gesenkt werden. Soziale Verhaltensstoerungen, naechtliche Unruhe und Erkrankungen der Pflegeperson sind prinzipiell einer medizinischen Therapie zugaenglich. Es besteht also eine grosse Chance fuer Aerzte, die pflegebeduerftige Personen und ihre Pflegepersonen betreuen, durch konsequentes, vorbehaltloses Vorgehen einen wirksamen Beitrag zur Entlastung der haeuslichen Pflegepersonen zu leisten.

    Kontakt: Universitaet Erlangen-Nuernberg Dr. med. Elmar Graessel, Abteilung fuer Medizinische Psychologie und Psychopathometrie, Schwabachanlage 6, 91054 Erlangen, Tel 09131/85- 4810, Fax: 09131/85- 6593


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    Criteria of this press release:
    Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Psychology
    transregional, national
    Research projects
    German


     

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