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04/26/2005 09:16

Mann gegen Mikrobe: Himmelfahrtskommandos in tropische Paradiese

Rolf Willhardt Stabsstelle Presse und Kommunikation
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

    Zwei Düsseldorfer Wissenschaftler recherchierten medizinische Expeditionen der deutschen Kaiser- und Kolonialzeit: Lektionen der Vergangenheit ... für die Seuchenbekämpfung heute.

    Es entstand innerhalb einer Generation. Und wurde mit dem 1. Weltkrieg wieder verloren: das wilhelminische Kolonialreich. Ob in Afrika, in der Südsee: Deutsche Farmer, Missionare, Pflanzer, Abenteurer, Händler, Beamte, Aussteiger und Soldaten suchten in der exotischen Ferne ihr Glück. Sie mussten mit einer vollkommen ungewohnten Natur und Umgebung leben, mit fremden Seuchen und Krankheiten. Was fehlte, waren ausgebildete Tropenmediziner und Behandlungsmethoden. Innerhalb weniger Jahre jedoch erzielten deutsche Ärzte und Naturwissenschaftler bahnbrechende Erfolge in der weltweiten Seuchenbekämpfung. Die abenteuerliche Geschichte ihrer Expeditionen erzählt nun ein Buch zweier Wissenschaftler der Heinrich-Heine-Universität.

    "Bismarck wollte eigentlich gar keine Kolonien, er zweifelte, ob sie die Staatsmacht steigern würden. Aber die allgemeine Stimmung im Kaiserreich änderte sich. Besonders wirtschaftliche Gründe führten dann dazu, dass auch die Deutschen ihren 'Platz an der Sonne' wollten. Und bekamen. Bismarck wollte kaufmännische Unternehmen fördern, und die mussten dann auch militärisch geschützt werden. Dafür stellte er anfangs gerade einmal ein paar Kompanien Marinesoldaten aus Kiel zur Verfügung", so Prof. Dr. Heinz Mehlhorn.
    Zusammen mit dem Augenarzt Prof. Dr. Johannes W. Grüntzig hat der Parasitologe die medizinischen Begleiterscheinungen des "Kolonialfiebers" beschrieben. "Expeditionen ins Reich der Seuchen. Medizinische Himmelfahrtskommandos der deutschen Kaiser- und Kolonialzeit" nannten sie ihre faktenpralle, exzellent bebilderte Chronik von Reisen der Wissenschaftler zwischen 1870 und 1918, bei denen nicht wenige sich schwer infizierten oder ihr Leben verloren. Durch Eingeborene, durch Seuchen, wilde Tiere, Naturkatastrophen. Als Quellen nutzten die beiden Düsseldorfer Wissenschaftler besonders Tagebücher und Briefe der Forscher, zum Teil kam der Zufall zur Hilfe.

    Auf einer verstaubten Überseekiste zum Beispiel, die sich zwischen Gerümpel des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Göttingen fand, stand "Eigentum Prof. Leber". Darin: merkwürdige Fotos und Dias auf Glasplatten. Grüntzig gelang es, durch umfangreiche Recherchen und historische Detektivarbeit die bislang unbekannte, abenteuerliche Lebensgeschichte des Augenarztes und Tropenmediziners Alfred Leber (1881 bis 1954) zu rekonstruieren.

    Rückblende: Leber hatte in Berlin eine vielversprechende akademische Karriere begonnen und nimmt bereits als 29jähriger an Expeditionen teil. Auf Samoa behandelt er 1910 über 3.000 Patienten, er führt allein 150 Augenoperationen durch. Leber in einem seiner Expeditionsberichte im Stil der Zeit: "Die Abgabe künstlicher Augen, mit der ich schon vordem an anderer Stelle meine Klientel begeistert hatte, überzeugt nächst der Salvarsaneinspritzung am nachhaltigsten von der Überlegenheit europäischer Heilkunst."

    1914 bricht Leber zu einer Expedition nach Neuguinea auf, begleitet von dem Maler Emil Nolde und dessen Frau Ada. Der Expressionist ist fasziniert von der farbenprächtigen Exotik der Südsee. Und geht auch Risikos ein. Zum Beispiel, um einen besonders pittoresken, aber unberechenbaren Eingeborenen zu portraitieren. Nolde in seinen Erinnerungen: "Ich zeichnete ihn und malte. Zur rechten neben mir lag der gespannte Revolver und hinter mir stand, den Rücken deckend, meine Frau mit dem Ihrigen, ebenfalls entsichert?"

    Das Ehepaar Nolde strandet bei Ausbruch des Weltkrieges auf der Rückreise in Port Said, schafft es aber nach Deutschland. Leber hat weniger Glück, wird kurzfristig Arzt auf einer niederländischen Plantage, eröffnet 1916 eine rasch florierende Augenklinik auf Java, kehrt 1922 nach Deutschland zurück, wo ihm - Intrigen - eine Professur verwehrt wird. Abermals zurück nach Java. 1940, am Tag des Überfalls Deutschlands auf die Niederlande, verhaften die Behörden Leber, sein Besitz wird versteigert. Die Niederländer verlegen, da eine japanische Invasion droht, ihre Gefangenen ins britische Indien. Leber wird 1946 entlassen, möchte nach Deutschland zurück. Aber sein Heimatland ist zerstört, es gibt keine Arbeit. Er bleibt als Augenarzt in Bhopal, wird Direktor einer Klinik und Universitätsdekan. 1954 stirbt er in Delhi.

    1913, auf dem Höhepunkt, umfasst der deutsche Kolonialbesitz eine Fläche von insgesamt fast drei Millionen Quadratkilometern, mehr als das Fünffache der Fläche des Deutschen Reiches, darunter Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwest-Afrika, Kamerun, Togo, Deutsch-Mikronesien, Deutsch-Melanesien mit Bismarck-Archipel, die Salomonen und das Kaiser-Wilhelm-Land auf Neuguinea sowie Samoa und Kiautschou (Tsingtau).

    Zur Zeit des Kriegsausbruchs befinden sich mehrere deutsche Expeditionen im Ausland. Unter zum Teil abenteuerlichen Umständen versuchen die Teilnehmer, oft Militärärzte, sich durchzuschlagen; immer noch schicken sie Dossiers an ihre Dienststellen. Emil Nolde notierte später: "Die nach Berlin gesandten Berichte unserer Ärzte werden in den Ressorts des einstigen Reichskolonialamtes liegen, vergessen und nutzlos, denn Deutschland ohne Kolonien braucht diese nicht mehr."

    "So ganz stimmt das natürlich nicht", resümiert Prof. Mehlhorn. "Alles, was diese Expeditionen auch vor 1914 damals an Wissen vor Ort gesammelt und dokumentiert haben, hat der Tropenmedizin und der Medizin insgesamt ungeheure Fortschritte gebracht. Wissenschaftlich bahnbrechend in dieser kurzen Zeit von 1870 bis 1918 waren nicht allein die Entdeckungen der Erreger, der Übertragungswege und auch vielfach die Entmystifizierung Jahrtausend alter Geißeln der Menschheit wie Syphilis, Pest, Cholera, Milzbrand, Tuberkulose, Malaria oder Schlafkrankheit, sondern insbesondere die wegweisenden Methodenentwicklungen und Standardisierung der Untersuchungswege. Das Gestern hat tagesaktuellen Nutzwert für heutige Globaltouristen und unsere Reisemedizin!"

    Der wohl größte unter diesen entschlossenen Wissenschaftlern ist Robert Koch (1843 bis 1910). Der ehemalige preußische Landarzt und Entdecker der Erreger von Milzbrand, TBC und Cholera erzielt seine größten Erfolge durch die Ergebnisse seiner Expeditionen. Im Gegensatz zu seinen Gehrock- und Stehkragenkollegen daheim, die im sicheren Universitätslabor und papiertrockenen Bibliotheken forschen, studiert Koch die Gegebenheiten vor Ort. Bei der Cholera-Epidemie in Ägypten und Indien, bei der Rinderpest in Südafrika. Und das unter Extrembedingungen in Sumpf, Dschungel, Wüste und Savanne. Notfalls erlegt er persönlich Krokodile, um an Untersuchungsmaterial zu kommen. Das Zelt ist sein Labor, die Improvisation gehört zum wissenschaftlichen Alltag. Koch, selbst an Malaria erkrankt, die Füße von Sandflöhen zerstochen, gilt als "Arbeitstier". Dass auch seine Expeditionsteams ein paar Stunden Sonntagsruhe brauchen, ist ihm vollkommen unverständlich.

    Die beiden Autoren dokumentieren ausführlich - und nicht ohne Sinn für
    Anekdotisches - Kochs geniale medizinische Pioniertaten. "Die übrigens in der Öffentlichkeit wie in der Regierung höchste Aufmerksamkeit fanden: Das Deutsche Reich unterstützte Kochs Tropen-Expeditionen und die seiner Kollegen mit heute unvorstellbaren Summen", berichtet Mehlhorn. Andererseits: Der Nobelpreisträger von 1905 bekam, nicht wie sein Musterschüler Emil Behring, den erblichen Adelstitel. Grund: Koch hatte sich scheiden lassen und, 30 Jahre älter, eine 17jährige Schauspielelevin von zweifelhaftem Ruf geheiratet (die ihn hinterher treulich bei seinen Expeditionen begleitete, Malaria inklusive).
    Eine Expedition, das bedeutete damals viele Fragen im Vorfeld.

    Grüntzig: "Welche Ausrüstungsgegenstände und Lebensmittel galt es mitzunehmen? Bei wem bestellte man die Reiseapotheke? Wie schützt man sich vor Malaria und Schlafkrankheit? Konnte man die Expedition fortsetzen, obwohl ein oder mehrere Mitglieder schwer erkrankt waren? Und stets die Frage im Gepäck: Werde ich den wissenschaftlichen Wettlauf um die Entdeckung des Krankheitserregers gewinnen?"
    Petitessen werden erwähnt, aber auch sie sind natürlich Teile der großen Geschichte. Ein Forscher notierte zu seiner Neuguinea-Expedition von 1888, dass er sie als das gefährlichste Unternehmen seines Lebens ansah; nicht wegen der Menschenfresserei oder der klimatischen Extreme, - sondern wegen des Mangels an Speisefett.

    Ausführliche Bekleidungsempfehlungen gab es (Erfahrung durch den Burenkrieg 1899 bis 1902: kein khakifarbener Baumwollstoff, stattdessen der "wollene Anzug das einzig Richtige"). Beim Tropenhelm kamen deutsche Kolonialbeamte und Militärs ins Schwitzen: Ihr unpraktisches Modell war der Pickelhaube nachempfunden. Klammheimlich kaufte man spätestens ins Port Said das englische Modell.

    Ein Reisebegleiter Kochs gab 1903 - jetzt hatten auch die Deutschen wie die globetrottenden Briten und Amerikaner den Ferntourismus ins Exotische entdeckt - Tipps für einen komfortablen Südsee-Trip: "Als wichtige Lebensregel in den Tropen gelte in erster Linie Ruhe; keine unnötigen Aufregungen über ärgerliche Zufälle, sondern möglichst Ausbildung des Gefühls absoluter Wurschtigkeit. Die Nahrung sei leicht; als Getränk diene, wo das Wasser gut ist, eine leichte Rotweinmischung, sonst das überall erhältliche Apollinariswasser. Als Anregungsmittel diene guter Sekt. Bier wird von manchen Personen nicht vertragen, wohl nur, weil es durchweg miserabel ist (?) In malariareichen Gegenden lebe man nach Kochscher Vorschrift: jeden achten und neunten Tag morgens früh ein Gramm (genau abgewogen) Chinin. Den widerlichen Geschmack beseitige man am besten durch ein Stück Zucker hinterher."

    An vielen der Expeditionen nahmen Sanitätsoffiziere teil. Die im Notfall bei Überfällen Skalpell und Mikroskop mit Gewehr und Säbel vertauschen mussten und dann das Kommando über eingeborene Hilfstruppen (die "Askaris" in Deutsch-Südwest z. B.) übernahmen, etwa beim Herero-Aufstand1904.

    Ein Kapitel des Buches trägt den Titel "Der 'lachende Tod', Erbe der Kolonialzeit?". Es geht um Kannibalismus im Hochland von Neuguinea, um die Schüttelkrankheit "Kuru" als direkte Folge bei den Eingeborenen. Seltsam: Erst mit Beginn der deutschen Kolonialzeit ist sie bekannt und verbreitet sich. Kannibalismus ist natürlich auch für die kaiserlichen Expeditionsteams und Forscher in Neuguinea ein Thema. Im Buch "Deutschlands Kolonien" (1910) heißt es: "Der Mission und der Verwaltung ist es noch nicht geglückt, das Papualaster des Kannibalismus auszurotten, dem fast alle Inselstämme huldigen, während es in Kaiser-Wilhelm-Land nur vereinzelt vorzukommen scheint. (?) Den einen gilt Europäerfleisch als Leckerbissen, andere verschmähen es, weil es zu salzig sei und zu sehr nach Alkohol schmecke und ziehen das Fleisch von Chinesen vor. Als 1858 ein französisches Schiff mit 317 chinesischen Kulis an Bord im Louisiade-Archipel scheiterte, waren in wenigen Monaten alle Chinesen bis auf vier aufgefressen worden."

    Kuru, BSE, Creutzfeldt-Jakob: Wo gibt es Verbindungslinien? "Die damals in der deutschen Kolonie beschriebenen Krankheitsbilder sind jedenfalls ein wichtiger Grundstein für die heutige Forschung", resümiert Mehlhorn.
    Fazit der Autoren: "Auch wenn man heute die Kolonialzeit eher den dunklen Kapiteln der Menschheitsgeschichte zuordnet, waren im Hinblick auf die Seuchenbekämpfung die damaligen Expeditionen ein entscheidender positiver Beitrag für die Weltgesundheit. Von Robert Koch bis heute zieht sich eine erfolgreiche tropenmedizinische Forschung wie ein roter Faden lückenlos durch die beschriebenen Jahrzehnte."

    Johannes W. Grüntzig / Heinz Mehlhorn: "Expeditionen ins Reich der Seuchen. Medizinische Himmelfahrtskommandos der deutschen Kaiser- und Kolonialzeit", Elsevier-Verlag, München 2005, 380 Seiten, 305 Abb., 28,- Euro


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    Criteria of this press release:
    Geosciences, History / archaeology, Medicine, Nutrition / healthcare / nursing
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

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