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Wege aus der Obdachlosigkeit
Ein neues sozialpaedagogisches Konzept zur Betreuung von Strassenkindern
Koeln, den 23. Mai 1996 - Erfolgreich kann Strassenkindern in Deutschland nur geholfen werden, wenn die bisherige Form der Jugendhilfe veraendert wird. Erforderlich ist ein neues Konzept, das sich am Alltag und den Beduerfnissen der Kinder orientiert und eine langsame, aber kontinuierliche Abloesung aus dem Milieu Bahnhof ermoeglicht. Gegenwaertig fehlen solche tauglichen Hilfsangebote. Die bestehenden Einrichtungen der Jugendhilfe werden von den Strassenkindern abgelehnt, da sie ihnen den radikalen Bruch mit ihrer bisherigen Lebenswelt abverlangen. Dies sind Ergebnisse einer Studie von Dr. Gabriele Pfennig vom Seminar fuer Allgemeine Heilpaedagogik, Sozialpaedagogik, Soziologie der Behinderten und Patholinguistik der Universitaet zu Koeln.
In Deutschland leben Kinder und Jugendliche dauerhaft obdachlos auf der Strasse. Das Phaenomen ist seit Beginn der achtziger Jahre bekannt und die Zahl der Betroffenen hat seither staendig zugenommen. Genaue Zahlen fehlen aber, da keine Statistik die Strassenkinder gesondert erfasst. Sie leben meist in der Naehe der grossstaedtischen Hauptbahnhoefe. Ihnen sind diese Orte vertraut, und sie empfinden sie als verlaesslich. Hier treffen sie Freunde, die das gleiche Schicksal haben und mit aehnlichen Problemen kaempfen. Oft sind diese Kinder drogenabhaengig. Zur Finanzierung ihrer Sucht prostituieren sie sich oder begehen Straftaten. Zumeist haben sie die Beziehungen zu ihren Familien abgebrochen; nicht wenige wurden sogar von den Eltern abgeschoben. Auch in Heimen halten es Strassenkinder selten laenger aus. Leben sie erst einmal auf der Strasse, haben Rueckgliederungsversuche wenig Erfolg. Gegenueber Erwachsenen, von denen sie sich enttaeuscht und unverstanden fuehlen, sind sie misstrauisch und unzugaenglich.
Fuer ihre Studie hat Dr. Pfennig die Verhaeltnisse am Koelner Hauptbahnhof genauer untersucht. Hier wirken seit 1991 das staedtische Jugend- und Gesundheitsamt sowie der private Verein "Auf Achse Treberhilfe e.V." eng zusammen, um den Strassenkindern zu helfen. Taeglich fahren mehrere Strassensozialarbeiter (Streetworker) mit einem alten Bus den Bahnhof an und bieten den Obdachlosen fuer einige Stunden die Moeglichkeit zu zwangloser Kontaktaufnahme. In dieser mobilen Beratungsstelle koennen elementare Beduerfnisse der Kinder befriedigt werden. Die Streetworker verteilen Vitaminsaft, Verbandsmaterial oder Kondome und organisieren die medizinische Versorgung. Sie verlangen bei ihrer Arbeit die Einhaltung minimaler Regeln. Gewalt, Geschaefte und Drogen sind im Bus streng verboten.
Das Konzept der Sozialarbeiter geht von der Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen aus und akzeptiert ihre Lebensweise am Bahnhof. Die Betreuer suchen Kontakt und sie vermeiden es, Druck auszuueben. Die Kinder sollen sich bewusst fuer das Angebot zur Hilfe entscheiden. Die Schwellen liegen so sehr niedrig und Kontakte koennen schnell entstehen. Schwierig wird es bei der Vermittlung weiterfuehrender Angebote, etwa der Bereitstellung von Notschlafstellen oder Therapieplaetzen. Die bestehenden Hilfseinrichtungen verlangen von den Kindern in der Regel, dass sie den Bahnhof verlassen und ihre Freunde aufgeben. Fortgesetzter Drogenkonsum fuehrt sogar zum sofortigen Ausschluss aus der Hilfsmassnahme.
Aus den Ergebnissen ihrer teilnehmenden Beobachtung und aus der Auswertung der Erfahrungen der Streetworker schliesst die Koelner Paedagogin, dass den Strassenkindern eher geholfen werden koennte, wenn der UEbergang von niedrigschwelliger Strassensozialarbeit zu hoeherschwelligen Hilfen fliessender waere. Sie schlaegt ein Schwellenstufensystem als Modell fuer eine strukturell veraenderte Jugendhilfe vor. Am Anfang steht die Strassensozialarbeit als Kontaktphase mit minimalen Regeln. Ist erst eine Beziehung geknuepft, sollten genuegend Notschlafstellen bereit stehen. Nach einer Orientierungsphase koennen die Strassenkinder in Projekte des betreuten Wohnens wechseln. Milieubedingte Verhaltensweisen werden waehrend der Massnahme akzeptiert und fuehren nicht zum Ausschluss. Auf individuelle Beduerfnisse nehmen die Betreuer Ruecksicht, und sie verzichten auf ein gewaltsames Herausloesen der Kinder aus dem gewohnten, haltgebenden Umfeld des Bahnhofs. Therapieangebote werden auch nach mehrmaligem Abbruch nicht zurueckgezogen.
Nach Ansicht von Dr. Pfennig sollte auch bedacht werden, dass das Kinder- und Jugendhilfegesetz in vielen Belangen dem von ihr vorgeschlagenen Modell entgegenkommt. So ist beispielsweise die gaengige Praxis in Heimen, Eltern von der Aufnahme ihrer Kinder sofort zu unterrichten, keineswegs zwingend vorgeschrieben. Sowohl das Gesetz als auch ein Rechtsgutachten aus dem Jahr 1993 lassen eine spaetere Benachrichtigung zu. Dies wuerde fuer die Kinder den besonderen Druck in der Aufnahmephase mindern. Bisher ist diese offene Auslegung der Rechtsvorschrift aber nicht praktiziert worden, obwohl in einem solchen feingliedrigen Stufensystem mit niedrigen Schwellen paedagogische Hilfe fuer Strassenkinder leichter zu leisten waere.
Verantwortlich: Dr. Wolfgang Mathias
Criteria of this press release:
Social studies
transregional, national
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German
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