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05/04/2000 15:41

"Sozialhilfereform in den USA - Vorbild für Deutschland?"

Ingrid Godenrath Stabsstelle Zentrale Kommunikation
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

    Die Bundesrepublik Deutschland, ein ausgebauter und funktionsfähiger Wohlfahrtsstaat - dieses Bild ist nach wie vor richtig und allgegenwärtig. Rechtsansprüche auf Sozialleistungen garantieren soziale Sicherheit und politisches Vertrauen. Besondere Bedeutung kommt dabei dem seit 1962 bestehenden Rechtsanspruch auf Leistungen im Rahmen des Bundessozialhilfegesetzes zu, das - bei allem Reformbedarf - eine grundständige Existenzsicherung gewährleistet. Gleichwohl wird, verstärkt durch die deutsche Vereinigung, über grundlegende Änderungen des Sozialen Sicherungssystems diskutiert; vor allem PolitikerInnen und WissenschaftlerInnen melden sich zu Wort, beispielsweise Peter Glotz und der Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz. Peter Glotz fordert in Anlehnung an die katholische Soziallehre ein Mehr an individueller Verantwortung und befürwortet eine erhöhte Selbstbeteiligung in der medizinischen Versorgung, während Friedrich Merz auch dafür plädiert, das Renteneintrittsalter deutlich zu erhöhen.
    Bei der Suche nach institutionellen Alternativen in der Sozialpolitik empfiehlt sich - trotz politischer und kulturellen Differenzen - vor allem der Blick in andere Länder.

    Holger Backhaus-Maul ist von Hause aus Soziologe und Verwaltungswissenschaftler und am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Martin-Luther-Universität u. a. mit sozialrechtlichen und sozialpolitischen Forschungsthemen befasst. Nachdem er sich in mehreren Publikationen mit Fragen der Sozialpolitik, ihren gesamtdeutschen Perspektiven und ostdeutschen Besonderheiten, sowie der sozialpolitischen Kompetenzverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen befasst hat, gab er kürzlich einen Sammelband mit dem Titel "Von der Sozialhilfe in die Erwerbsarbeit. Die Welfare Reform in den USA als Vorbild?" mit Arbeiten von einem Dutzend deutscher und US-amerikanischer WissenschaftlerInnen heraus. Dabei sollte man das Fragezeichen im Titel des Bandes keinesfalls übersehen. Im Mittelpunkt stehen Fragen der Vergleichbarkeit und eventuellen Übertragbarkeit sozialpolitischer Reformideen, Instrumente und Verfahrensweisen, wobei die grundlegenden kulturellen und politischen Unterschiede nicht verkannt werden sollten.

    Soziokulturelle Unterschiede im deutsch-amerikanischen Vergleich

    Kennzeichnend für den deutschen Wohlfahrtsstaat sind der seit 1962 gesetzlich verankerte "Rechtsanspruch" auf Sozialhilfe und die Wertschätzung der Freiheitsrechte derjenigen, die Sozialhilfeleistungen in Anspruch nehmen (müssen). Im deutsch-amerikanischen Vergleich werden die sozialkulturellen Unterschiede deutlich: So sind in Deutschland etwa die Normalitätserwartungen gegenüber Sozialhilfeempfängern geringer und der Verweis auf die individuelle Pflicht und Verantwortung ist hier eher verhalten. Aber auch der gesellschaftspolitische Kontext ist ein anderer. Die USA sind eine Erwerbsgesellschaft mit einer hohen Frauenerwerbsquote, was u. a. zur Folge hat, dass ein nennenswerter Anteil des Familieneinkommens für haushaltsnahe Dienstleistungen ausgegeben wird. Die große Nachfrage nach entsprechenden Dienstleistungen hat dazu geführt, dass eine Vielzahl von Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor entstanden ist. In einer Erwerbsgesellschaft, die die individuelle Verantwortung in den Vordergrund rückt, überrascht es nicht, dass im Falle von Armut die Aufnahme einer Erwerbsarbeit in Kombination mit Qualifizierungsmaßnahmen und entsprechenden Angeboten zur Kinderbetreuung eine absolute Priorität genießt.
    Die Forschungen von Holger Backhaus-Maul arbeiten die Differenzen zwischen den sozialen Sicherungssystemen in den USA und der Bundesrepublik Deutschland heraus und gehen der Frage nach, ob es in den USA institutionelle Regelungen und Verfahren gibt, die in Deutschland innovativ wirken könnten. Dabei wird zum Beispiel deutlich, dass die Gesetzgebung in den USA ausge-sprochen flexibel ist. Sozialgesetze sind nicht für die Ewigkeit bestimmt, sondern unterliegen, wie politische Programme, raschen Veränderungen. Bewährt sich ein Gesetz wie die Welfare Reform ("Personal Responsibility and Work Opportunity / Reconciliation Act"), bleibt es bestehen - stellt man hingegen nach einiger Zeit fest, dass es Mängel bzw. Lücken hat, wird es verändert oder abge-schafft. Positiv betrachtet, kann der Gesetzgeber damit relativ schnell auf soziale und politische Veränderungen reagieren; die Kehrseite dieser Praxis ist aber ein merklicher Verlust an Rechtssicherheit für die BürgerInnen.

    Welfare Reform kein Vorbild für Deutschland!

    In den Untersuchungen des US-amerikanischen Sozialsystems kommen Holger Backhaus-Maul und seine MitautorInnen zu dem einhelligen Schluss, dass die dortigen Sozialversicherung und die Welfare Reform kein Vorbild für die ausstehenden Sozialreformen in Deutschland sind. So besteht in den USA - im Gegensatz zu Deutschland - keine Krankenversicherungspflicht, so dass ca. ein Fünftel der Bevölkerung über keinen Versicherungsschutz verfügt. Durch Sozialprogramme wie MEDICARE und MEDICAID einerseits sowie TANF (Temporary Assistance für Needy Families), SSI (Supplement Security Income) und FOOD-STAMPS wird dieser Mangel allenfalls punktuell ausgeglichen.
    Gleichwohl sind einzelne institutionelle Regelungen auch für die deutsche Reformdiskussion von Interesse. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei die politisch prioritäre Re-Integration von Erwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt. Im Zusammenhang mit der Welfare Reform sind in einzelnen Bundesstaaten ausgesprochen erfolgreiche arbeitsmarktorientierte Qualifizierungsprogramme sowie familienentlastende soziale Dienste geschaffen worden. Vor diesem Hintergrund verweist Holger Backhaus-Maul auf die Sinnhaftigkeit und Zweckmäßigkeit gezielter staatlicher Subventionen und Steuerermäßigungen zugunsten von Arbeitsplätzen im Niedriglohn- und Dienstleistungssektor anstelle staatlich administrierter Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.

    Individuelle Verantwortung und freiwilliges Engagement

    Mit dem Umbau des deutschen sozialen Sicherungssystem ist aus einer US-amerikanischen Perspektive mit einer Aufwertung individueller Verantwortung gegenüber einer kollektiven Daseinsvorsorge zur rechnen. Dass individuelle Verantwortung nicht einfach mit Eigennutz gleichzusetzen ist, verdeutlich der hohe Stellenwert freiwilligen Engagements in der US-amerikanischen Gesellschaft und dessen Förderung insbesondere durch privatgewerbliche Unternehmern, Nonprofit-Organisationen, Stiftungen und Kirchen. Eine besondere Bedeutung misst Holger Backhaus-Maul Freiwilligen-Agenturen als zeitgemäßer Form der Engagementförderung bei. Derartige Agenturen mit Beratungs-, Vermittlungs- und Lobbyfunktionen - nach amerikanischem und niederländischem Vorbild - gibt es mittlerweile auch an einigen Orten in Deutschland, auch in Halle.
    Insgesamt kommen der hallesche Soziologe und viele der AutorInnen seines Sammelbandes zu dem Schluss, dass im Zuge der Globalisierung, zumindest im kontinentaleuropäischen Bereich, dem deutschen Sozialsystem generell der Vorzug vor dem US-amerikanischen zu geben ist. Was aber nicht ausschließt, die US-amerikanischen Sozialprogramme auf innovative Elemente hin zu untersuchen, um Anregungen für grundlegende Sozialreformen in Deutschland zu bekommen.
    Da der vorgelegte Band zur Welfare Reform in den USA vom traditionsreichen und fachpolitisch renommierten Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge in Frankfurt verlegt wird, ist zu erwarten, dass die vorliegenden Befunde Eingang in die sozialpolitische Debatte finden werden.

    Dr. Margarete Wein

    Kontakt
    backhausmaul@mindspring.com


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    Criteria of this press release:
    Medicine, Nutrition / healthcare / nursing, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

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