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10/20/2000 11:24

Judenpolitik, Antisemitismus und Literatur in Rußland 1929 bis 1953

Gertraud Pickel Presse und Kommunikation
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

    Literarische Judenbilder als ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen der Stalinzeit zu erforschen, ist ein Gemeinschaftsprojekt der Lehrstühle für Osteuropäische Geschichte und Slavistik der Universität Erlangen-Nürnberg. Als Teilprojekt des Sonderforschungsgebietes "Diktaturen im Europa des 20. Jahrhunderts: Strukturen, Erfahrungen, Überwindung und Vergleich" wird es von der Volkswagen-Stiftung gefördert. An das Projekt knüpft thematisch eine Promotion an, die von Lilia Antipow M.A. bearbeitet und von Professor Dr. Elisabeth von Erdmann-Pandzic betreut wird.

    Im zaristischen Rußland ein armer Schmied, wurde Samuil Perlin in der UdSSR ein Kolchosbauer. Seitdem die sowjetische Regierung die landwirtschaftliche Kolonisation unter den Juden auf der Krim in Angriff genommen hat, baut er dort unter der Leitung von russischen Kommunisten und mit Unterstützung der russischen und ukrainischen Bauern das "sozialistische jüdische Paradies". Die UdSSR ist bereits sein "sowjetisches Vaterland" geworden, wo Perlin - unter dem Zaren rechtlos, von sozialer Ungleichheit und militantem Antisemitismus geplagt - in die Gemeinschaft der sowjetischen Völker aufgenommen wurde und zusammen mit ihnen in die "lichte kommunistische Zukunft" marschiert. Patriotismus und Ergebenheit gegenüber der Sache der Revolution, Kollektivismus und kommunistisches Pflichtbewußtsein zeichnen ihn ebenso aus wie persönliche Askese und Bereitschaft zur Selbstaufopferung. Jüdische Kultur, Religion und Sprache besitzen für ihn kaum noch einen Wert; er spricht Russisch, und sein Alltag ist nicht mehr vom jüdischen Ritus geprägt. Die Herauslösung aus der Tradition und die neue Identität betont sein Äußeres: Perlins reckenhafte Statur entspricht dem - aus Folklore und Literatur bekannten - männlichen Schönheitsideal der Russen.

    Diese Figur stammt aus dem Produktions- und Aufbauroman "Eti gospoda" von Matvej Rojzman. Er ist 1930 mit finanzieller Förderung der Gesellschaft für jüdische Landansiedlung (OZET) entstanden und wurde von den offiziellen sowjetischen Stellen wohlwollend aufgenommen. Was Rojzman mit einer literarischen Figur wie Perlin geschaffen hatte, war eine Konstruktion: Als Personifikation des Guten, wie es durch den sowjetischen Ethikkodex definiert war, als Projektion des Judenbildes der Staats- und Parteiführung und Ziel ihrer Nationalitätenpolitik verkörperte Perlin den "neuen Juden". Diese literarische Figur war ein Identitätsangebot an die Juden in der UdSSR und dazu bestimmt, sie eben zu diesen "neuen sowjetischen Juden" zu erziehen. Zugleich versuchte sie, den gängigen antisemitischen Judenbildern des "Kosmopoliten", des "ausländischen Spions", des "Kapitalisten", des "Zersetzers der russischen Gesellschaft" und des "jüdischen Weltverschwörers" entgegenzutreten, die Wahrnehmung des Juden durch die Nichtjuden und ihre Einstellung zu ihm zu "reorganisieren". Darüber hinaus zeigte Perlins Charakter jenes Grundmuster, nach dem alle positiven jüdischen Figuren in der Literatur der Stalinzeit konstruiert wurden.

    Doch wie repräsentativ war dieses Grundmuster für die "stalinistische Konstruktion des Juden"? Lag es nicht quer zur historischen Situation jener Jahre? Denn während im Roman der "Sieg des Sozialismus auf der jüdischen Straße" gefeiert wurde, erlebte das Land den Terror gegen jüdische Eliten, den Untergang der traditionellen jüdischen Lebens- und Glaubensformen, entzog sich die Führung einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der sowjetischen Gesellschaft. Wie ist dann zu erklären, daß positiv besetzte jüdische Figuren wie Samuil Perlin sogar in den späten 40er und beginnenden 50er Jahren die literarische Landschaft beherrschten, zu Zeiten der Kampagnen gegen den "Kosmopolitismus", den "bürgerlichen jüdischen Nationalismus" und die Kremlärzte, die traditionelle antisemitische Judenbilder instrumentalisierten?

    Wie lassen sich diese Widersprüche auflösen? Welche politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen und Mechanismen steuerten, wenn sie es denn taten, die literarische Konstruktion des Juden in der stalinistischen Sowjetunion, in der die Staats- und Parteiführung zu Beginn der 30er Jahre ihren Führungsanspruch gegenüber den Schriftstellern weitgehend durchgesetzt und die Literatur als ein Mittel zur "Reorganisation der Köpfe" in ihren Dienst gestellt hatte, versuchte, deren Inhalt und Form nach Maßgabe ihrer politischen Ziele zu bestimmen? Wenn Stalin dabei den sowjetischen Schriftsteller zum "Ingenieur der menschlichen Seele" ernannte, bleibt die Frage nach dem Erfolg seiner Bemühungen. Wie nachhaltig war die Wirkung seines "Judenbildes", wenn in weiten Teilen der sowjetischen Gesellschaft während der 30er bis 50er Jahre antisemitische Grundeinstellungen nicht verschwanden? Wie wäre sonst zu verstehen, daß viele Juden bereits in der Stalinzeit eine andere, nicht sowjetische Identität und eine Option für Palästina als alte und neue Heimstatt entwickelten?

    Entstehung, Wandel und Wirkung im Kontext der Stalinzeit

    Diese Fragen greift das Projekt "Die stalinistische Konstruktion des Juden: Politik und Literatur in Rußland 1929-1953" auf. Sein Anliegen ist, die vielfältigen Ausprägungen dieser Konstruktion in Werken jüdischer und nichtjüdischer sowjetischer Schriftsteller zu erfassen und ihre Entstehung, Veränderung und Wirkung im ideologischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Kontext der Stalinzeit zu untersuchen. Dabei will man jene Verbindungen offenlegen, die zwischen der Ideologie, der Nationalitäten- und Judenpolitik, der Konstruktion des Juden in der sowjetischen Literatur sowie den gesellschaftlichen Kollektiverfahrungen, Einstellungen und Prägungen bestanden.

    Das Projekt setzt sich zunächst mit den Forderungen auseinander, die für die literarische Konstruktion des Juden aus den Vorgaben der sowjetischen Nationalitätenpolitik erwuchsen. Dabei ist vor allem die Veränderung dieser Forderungen unter den sich wandelnden ideologischen und politischen Bedingungen zu verfolgen, so beim ideologischen Wechsel vom proletarischen Internationalismus zum sowjetischen bzw. russischen Patriotismus um 1930 oder bei der Aufnahme der Kampagnen gegen den "Kosmopolitismus", den "bürgerlichen Nationalismus" und die Kremlärzte in den Jahren 1948-1953.

    Ein Mittel, mit dem die sowjetische Staats- und Parteiführung in der Lage war, auf die literarische Konstruktion des Juden sowie ihre Distribution und Rezeption in der Gesellschaft erheblichen Einfluß zu nehmen, war die literarische Zensur. Vielschichtig und hierarchisch aufgebaut, verfolgte sie eine Judenpolitik, deren Inhalte und Formen, Objekte und Mechanismen einen weiteren Schwerpunkt der Untersuchung bilden. Dabei werden die vielfältigen Interaktionen der Partei-, Regierungs- und Zensurbehörden bei der literarischen Konstruktion des Juden, die Reaktionen der Zensur auf die nationalitätenpolitischen Vorgaben und die Freiräume zu beschreiben sein, die sie für sich in Anspruch nahm.

    Welchen Juden der sowjetische Schriftsteller bald in einer engen und aufgezwungenen Kooperation mit der politischen Führung und der Zensur, bald unabhängig von ihnen "konstruiert" hat - dies soll die Analyse der literarischen Texte selbst ergeben. Ausgehend von der Handlung, der Figurenkonstellation und -charakterisierung sowie der Wertperspektive eines literarischen Werkes wird sie versuchen, der Konstruktion des Juden als dessen Antwort auf die Frage des zeitgenössischen Diskurses: "Wer ist der Jude?" auf die Spur zu kommen. Anschließend wird diese Konstruktion in Bezug zur Vorgaben der Zensur gesetzt und danach gefragt, ob sie tatsächlich ihren Vorschriften und den Erwartungen der Partei- und Staatsführung entsprach.

    Allerdings bliebe eine Untersuchung über die literarische Konstruktion des Juden unvollständig, hätte man nicht die Rolle berücksichtigt, die der sowjetische Leser dabei gespielt hat. Denn während die stalinistische Staats- und Parteiführung in die literarische Produktion "von oben" eingriffen, griff die sowjetische Gesellschaft in sie gleichsam "von unten" ein. "Weltbild und Geschmack" des zeitgenössischen Lesers, seine Ansprüche und Erwartungen bildeten nicht nur aus der offiziellen literaturpolitischen Sicht eine reale Größe in der literarischen Produktion. Daher soll geklärt werden, welche Aspekte der literarischen Konstruktion des Juden auf die Erwartungen des sowjetischen Lesers, die Bedienung seiner Vorurteile zurückzuführen sind, die sich in seinen an Institutionen der literarischen Produktion gerichteten Stellungnahmen artikulierten.

    Abschließend stellt das Projekt die Distribution der literarischen Konstruktion des Juden in der sowjetischen Gesellschaft und ihre Rezeption durch verschiedene Leserkreise zur Diskussion, um ihre Bedeutung für die gesellschaftlichen Einstellungen und Verhaltensweisen zu bestimmen. Es ist ein Versuch zur Wirkungsgeschichte dieser Konstruktion, womit sie in Beziehung zur Mentalität und zur sozialen Praxis des sowjetischen Bürgers gesetzt wird.

    Eine solche Untersuchung gibt gleichzeitig die Möglichkeit, die Mechanismen der antisemitischen Meinungsbildung in der UdSSR der 30er bis 50er Jahre freizulegen, den Antisemitismus als ein ideologisches, politisches, gesellschaftliches und kulturelles Phänomen dieser Zeit in seinen Formen, Inhalten und Reichweite zu beschreiben. Sie verspricht darüber hinaus Einblicke in den sowjetischen Literaturbetrieb und die Mechanismen seiner Lenkung, in die Literaturpolitik der Stalinzeit sowie in die Mittel und die Möglichkeiten ihrer Durchsetzung, in die Spielräume literarischen Schaffens und die Rolle des Lesers in der literarischen Produktion sowie in die Bedeutung der Literatur für das Bewußtsein der sowjetischen Gesellschaft und ihre soziale Praxis. Hiermit will das Projekt auch in die Auseinandersetzung um den Stalinismus "von oben" und "von unten" eingreifen, politik-, sozial-, mentalitäts- und kulturgeschichtliche Ansätze zu seiner Erklärung diskutieren und auf ihren historischen Erkenntniswert hin prüfen.
    Lilia Antipow

    * Kontakt:

    Prof. Dr. Helmut Altrichter, Lehrstuhl für Osteuropäische Geschichte
    Bismarckstraße 12, 91054 Erlangen, Tel.: 09131/85 -22363

    Prof. Dr. Elisabeth von Erdmann-Pandzic, Professur für Slavistik
    Bismarckstraße 1, 91054 Erlangen, Tel.: 09131/85 -22942


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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Language / literature, Social studies
    transregional, national
    Research projects
    German


     

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