Mit der Methode der Netzwerkanalyse - Wie soziale Prozesse das Handeln Einzelner bestimmen
FRANKFURT. Wikipedia, die größte Online-Enzyklopädie, gibt Rätsel auf: Was treibt so viele Menschen an, in ihrer Freizeit an einem virtuellen Lexikon mitzuarbeiten? Wie kommt es, dass das Niveau der meisten Beiträge so hoch ist und Fehler so schnell korrigiert werden, zumal der Zugang für jeden ohne Ausweis seiner Qualifikation frei ist? Mithilfe der Netzwerkanalyse, einem hochpotenten Instrument der empirischen Sozialforschung, lässt sich nachweisen, dass schon die Einbindung in ein solches Netzwerk wie Wikipedia das Handeln bestimmt und auch die Motivation beeinflusst, wie Privatdozent Dr. Christian Stegbauer, Soziologe an der Goethe-Universität, in seinem Beitrag in der jüngsten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins Forschung Frankfurt (2/2008) eindrücklich beschreibt.
Wenn man die Teilnahme nicht aus Eigennutz erklären kann, dann bleiben zwei für Soziologen interessante Motive dafür übrig, bei Wikipedia einzusteigen: die generalisierte Reziprozität und die hinter dem Wikipedia-Projekt stehende Ideologie. Was verbirgt sich hinter dem Phänomen der "generalisierten Reziprozität"? Wenn jemand die Online-Enzyklopädie häufiger ohne Bezahlung nutzt und er sich vorstellen kann, dass andere viel Arbeit hineingesteckt haben, mag diese Person eher gewillt sein, der Allgemeinheit etwas zurückzugeben. Ähnliche Motive findet man bei anonymen Spendern für gemeinnützige Einrichtungen. Hinter Wikipedia verbirgt sich die Ideologie, Wissen aus Zwängen des Copyrights zu befreien und es allen Benutzern kostenfrei zur Verfügung zu stellen. Wenn alle auf die Wissensbestände Zugriff haben, wird ein Stück Chancengleichheit hergestellt. Und zur Produktion der Inhalte fügt Stegbauer an: "Es kristallisiert sich die von vielen getragene Vorstellung heraus, man könne das Wissen der Menschheit zusammenstellen, wenn jeder ein Stück seines Wissens beiträgt. Durch Wikipedia weht also der Wind der Aufklärung."
Sicher sind diese Motive besonders für Einsteiger von Bedeutung. Doch reichen sie für ein länger andauerndes Engagement aus? Dazu Stegbauer: "Unsere Untersuchung hat die Hypothese bestätigt, dass die Beteiligung über die Einbindung in einen sozialen Zusammenhang reguliert wird. Es dominiert nicht die individuelle Motivation, sondern die Mitarbeit durch die Beziehungen und die Struktur der Beziehungen, die die Teilnehmer untereinander verbindet." Das bedeutet, dass es nicht von einem wie auch immer gearteten vorausgehenden Motiv abhängig ist, ob die Personen kooperieren, diese Bereitschaft entwickelt sich vielmehr aus dem sozialen Zusammenhang. Wikipedia wird dabei als gut zu untersuchendes Beispiel für das weite Feld der Kooperation zwischen Menschen angesehen.
"In unserem Projekt können wir an zahlreichen Beispielen nachweisen, dass die Teilnehmer sich durch weitgehend für sie nicht erkennbar abspielende Prozesse plötzlich an einer anderen Position wiederfinden, als ursprünglich von ihnen beabsichtigt war. Hieran zeigt sich, wie durch die Netzwerke, in denen wir gebunden sind, unser Handeln beeinflusst wird und wie innerhalb der Beziehungen Handlungsweisen und Motivationen entstehen", erläutert Stegbauer die Eigendynamik solcher Netzwerke.
Durch die Netzwerkanalyse, die in der empirischen Sozialforschung in den USA eine weitaus größere Rolle als in Europa spielt, können die Soziologen einen anderen Blick auf die Struktur sozialer Beziehungen werfen. Neu ist vor allem die Blickrichtung - dazu der Frankfurter Sozialwissenschaftler: "Wir interessieren uns dafür, was es bedeutet, dass die Menschen in Beziehung zu anderen stehen. Neu sind aber auch zahlreiche Analyseverfahren, die erst durch Methodenentwicklungen und die im Internet verfügbaren Daten möglich werden. Erhebt man für ein bestimmtes Kollektiv die Beziehungen, so kann man diese in einer Beziehungsmatrix anordnen." Solche "Beziehungsmatrizen" sind jedem aus Entfernungstabellen bekannt. So wie dort die Entfernung zwischen zwei Städten angegeben wird, steht in einer Beziehungsmatrix, wer mit wem in Beziehung steht, eventuell auch, wie stark diese Beziehung ist und ob es sich um eine gerichtete oder eine ungerichtete Beziehung handelt.
Soeben erschienen:
Wissenschaftsmagazin
Forschung Frankfurt 2/2008
Schwerpunktthema "Mathematik"
Kostenlos anfordern:
steier@pvw.uni-frankfurt.de
Im Internet:
www.muk.uni-frankfurt.de/Publikationen/FFFM/2008/index.html
Informationen: Dr. Christian Stegbauer, Institut für Gesellschafts- und Politikanalyse, Fachbereich Gesellschaftswissenschaften, Campus Bockenheim, Tel. (069) 798 - 22473, E-Mail stegbauer@soz.uni-frankfurt.de
Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt am Main. Vor 94 Jahren von Frankfurter Bürgern gegründet, ist sie heute eine der zehn größten Universitäten Deutschlands. Am
1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein einzigartiges Maß an Eigenständigkeit. Rund um das historische Poelzig-Ensemble im Frankfurter Westend entsteht derzeit für rund 600 Millionen Euro der schönste Campus Deutschlands. Mit 45 eingeworbenen Stiftungs- und Stiftungsgastprofessuren nimmt die Goethe-Uni den deutschen Spitzenplatz ein. In drei Forschungsrankings des CHE in Folge und in der Exzellenzinitiative zeigt sich die Goethe-Universität als eine der forschungsstärksten Hochschulen Deutschlands.
Herausgeber: Der Präsident
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Redaktion: Ulrike Jaspers, Referentin für Wissenschaftskommunikation
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Criteria of this press release:
Media and communication sciences, Social studies
transregional, national
Research results, Scientific Publications
German
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