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05/18/2001 07:34

Eine der ersten Sammlungen deutschsprachiger Volkserzählungen wieder entdeckt

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    "Meine Wonne in kummervollen Nächten waren die 4 Bände NEUEN Volksmährchen der Deutschen", schrieb Achim von Arnim in einem Brief an den Schriftstellerkollegen Clemens Brentano 1807. Damals wusste kaum jemand, dass die von ihm hochgeschätzte Märchensammlung von einer Schriftstellerin verfasst wurde, die anonym außerdem mehrere Dutzende historische Romane veröffentlicht hat. Auch die Literaturgeschichte hat Benedikte Naubert (1756-1819) als Märchenautorin bislang weitgehend ignoriert, obgleich sie als erste die Aufforderung von Johann Gottfried Herder ernst nahm und eine Sammlung deutschsprachiger Volkserzählungen vorlegte. Die 'Neuen Volksmärchen der Deutschen' erschienen 1789-1792. Es ist das Verdienst von Anita Runge (Freie Universität Berlin), Marianne Henn und Paola Mayer, die Dichterin dem Vergessen zu entreißen: Vor wenigen Tagen gab der Wallstein-Verlag erstmals seit der Erstauflage eine kommentierte Ausgabe der vergnüglich zu lesenden Märchen heraus.

    Wer war Benedikte Naubert, die anonym über achtzig historische Romane, Gedichte, Erzählungen und Märchenbücher verfasste und damit als eine der produktivsten Schriftstellerin des 18. Jahrhunderts gilt? Als Tochter eines gelehrten Arztes und Afrikareisenden 1756 in Leipzig geboren, erhielt Benedikte Naubert eine für Mädchen der damaligen Zeit erstaunlich breit gefächerte Erziehung. Von klein auf begeisterten sie die griechische und römische Mythologie, aber auch die mittelalterliche Geschichte. 1797 geht Benedikte Naubert eine kurze Ehe mit einem Rittergutsbesitzer ein. 1802 heiratet sie einen angesehenen Naumburger Kaufmann, erlebt die Folgen der Napoleonischen Befreiungskriege und kümmert sich um ihren Neffen. Immer wieder zieht sie sich von den Aufgaben und Pflichten einer Bürgersfrau in ein Wohnhaus am Weinberg zurück, das heute noch existiert. In den späteren Lebensjahren macht ihr ein Augenleiden mehr und mehr zu schaffen. Kurz vor einer geplanten Augenoperation stirbt Benedikte Naubert im Alter von 62 Jahren in Leipzig.

    Benedikte Naubert schreibt von Anfang an anonym, bedeutet ihr doch die Anonymität einen "vestalischen Schleier vor Lob und Tadel". Im Gegensatz zu anderen Schriftstellerinnen hält sie beharrlich an ihrer Anonymität fest, wohl auch, um sich nicht den Anschein zu geben, zu "gelehrig" für eine Frau der damaligen Zeit zu sein. "Wir Dienerinnen am Altar der Musen - (daß es ja niemand höre, daß ich dieses stolze Wir sage) - tragen das Kleid unserer Weihe nicht wie ein Alltagskleid, sind in unserem Hause gute Mädchen, stille häusliche Frauen, gefällige ergebene Ehegattinnen, geduldige Mütter, Köchinnen, Nätherinnen, Spinnerinnen beiher", schreibt Benedikte Naubert denn auch über ihre zwiespältige Rolle als schreibende Frau.

    Im Dezember 1809 erhält Benedikte Naubert Besuch von Wilhelm Grimm, der den Romantikern von der schreibenden Bürgersfrau berichtet. 1817 deckt die "Zeitung für die elegante Welt" ihre Identität auf. Naubert fühlt "das Weyrauchfaß so unbarmherzig an den Kopf geworfen, daß ich es wohl noch eine Weile fühlen werde". Joseph von Eichendorff sollte sie dreißig Jahre später als "die vielleicht objectivste aller dichtenden Frauen" bezeichnen.

    Dennoch ist Benedikte Naubert als Märchenerzählerin heute weitgehend unbekannt. Das mag daran liegen, dass sie ihre 'Neuen Volksmärchen der Deutschen' als Fortsetzung von J. K. A. Musäus' bekannten und vielfach nachgedruckten 'Volksmärchen der Deutschen' fingierte, die sich noch stark an der französischen Märchentradition und an Wielands kritischer Märchenpoetik orientieren. Die 'Neuen Volksmärchen der Deutschen' enthalten dabei jedoch erstmals in großem Umfang Nacherzählungen bekannter Volksstoffe (u.a. Ottilien-, Genoveva- und St.-Julians-Legende, Rübezahlsagen, die Rattenfänger- und Nibelungensage, Märchen vom Marienkind, Sage von der weißen Frau).

    Die Naumburger Schriftstellerin kombiniert diese Stoffe in überaus eigenwilliger Weise und präsentiert sie in der dialogischen Erzählweise des zeitgenössischen Familienromans. Eine wichtige Rolle spielen dabei Träume und Visionen. Die geschaffene Verbindung von familiärem Alltag und wunderbaren Ereignissen ist ein wieder zu entdeckender Schritt auf dem gattungsgeschichtlichen Weg sowohl zu den Grimm'schen 'Kinder- und Hausmärchen' als auch zum romantischen Kunstmärchen. Benedikte Naubert wählt dabei bewußt eine Erweiterung ihrer erzählerischen Möglichkeiten und schafft es, dass sich ein ganz neuer Blick auf die Entwicklung der Volkserzählungen im 18. Jahrhundert öffnet.

    Nauberts lebenslange Begeisterung für Geschichte und Sagen prädestinierten sie für den historischen Roman. Dabei gibt es fast kein Jahrhundert, das Naubert in ihren Romanen nicht behandelt: Angefangen vom 9. Jahrhundert mit der "Geschichte Emma's Tochter Kayser Karl des Grossen" bis zum 17. Jahrhundert mit "Fontanges, oder das Schicksal der Mutter und Tochter. Eine Geschichte aus den Zeiten Ludwig des Vierzehnten". Das 18. Jahrhundert unterschied noch nicht zwischen Legende, Geschichte, Sage. Naubert vertrat die Auffassung, dass die "wahre Geschichte nie entstellt" werden dürfte, vielmehr setze der historische Roman eine gründliche Kenntnis der Geschichte voraus. Damit wurde Benedikte Naubert zur "Vorläuferin des realistischen Geschichtsromans des 19. Jahrhunderts".

    Ausdrücklich berief sich Sir Walter Scott auf Benedikte Naubert. Ihre historischen Romane beeinflußten aber auch Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist und Conrad Ferdinand Meyer. Schließlich wünschte sich Caroline Schlegel als "Weihnachtslustirung" 1807 Nauberts "Amtsmannin von Hohenweiler"; Friedrich Schiller empfahl seiner künftigen Frau, Charlotte von Legefeld, die Romane von Benedikte Naubert.

    Erstmalig seit der Erstauflage von 1789-1792 liegen die 'Neuen Volksmärchen der Deutschen' nun wieder in vollständigem Nachdruck vor. Der Text wurde unter Beibehaltung des Laut- und Wortbestandes orthographisch behutsam modernisiert und durch einen Stellen- und Quellenkommentar erschlossen. Das Nachwort macht mit Leben und Werk der Autorin bekannt und dokumentiert die literaturgeschichtliche Bedeutung sowie die Druck- und Rezeptionsgeschichte der Sammlung.

    Literatur:
    Benedikte Naubert. 'Neue Volksmärchen der Deutschen', Kommentierte Studienausgabe der Erstauflage, Leipzig: Weygand 1789-1792 (4 Bde.), hg. von Marianne Henn, Paola Mayer und Anita Runge, 1224 Seiten, 4 s/w-Abb. Abb., geb. mit Schutzumschlag, Schuber, Format: 12 x 19 cm, DM 178,00, Subskriptionspreis bis zum 30.9.2001: DM 148,00

    Nähere Informationen gibt Ihnen gerne:
    Dr. Anita Runge, Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung, Tel.: 030 / 838-52482; E-Mail: arunge@zedat.fu-berlin.de

    Felicitas von Aretin


    Images

    Benedikte Naubert mit ihrem Neffen/Pflegesohn.Gamälde von Daniel Caffe (1806), Museum für Bildende Künste, Leipzig.
    Benedikte Naubert mit ihrem Neffen/Pflegesohn.Gamälde von Daniel Caffe (1806), Museum für Bildende K ...

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    Criteria of this press release:
    History / archaeology, Language / literature, Social studies
    transregional, national
    Research results, Scientific Publications
    German


     

    Benedikte Naubert mit ihrem Neffen/Pflegesohn.Gamälde von Daniel Caffe (1806), Museum für Bildende Künste, Leipzig.


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