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Das Tagebuch des Menschen ist unantastbar
Es sollte aber nicht offen herumliegen
"Die Wuerde des Menschen ist unantastbar", heisst es im ersten Artikel des Grundgesetzes. Dieser schlichte Satz wird kompli-ziert, wenn das Wort "Wuerde" naeher bestimmt werden soll. Geho-ert die Geheimhaltung eines Tagebuches zur Menschenwuerde oder muss sie hoeheren Interessen weichen? Eine Studie von Dr. Birgit Laber am Kriminalwissenschaftlichen Institut der Universitaet zu Koeln hat die bisherige Rechtsprechung auf diese Frage hin unter-sucht. Sie kommt zu dem Ergebnis: Das Tagebuch des Menschen ist - unter bestimmten Voraussetzungen - unantastbar.
Vor allem zwei Bedingungen sind es, so die Koelner Studie, die aus einem Tagebuch ein Geheimdokument machen: Erstens muss der "Geheimhaltungswille" erkennbar sein. Wer sein Tagebuch offen herumliegen laesst, kann nicht damit rechnen, dass die Gerichte es als geschuetzt respektieren. Zweitens spielt der "Sozialbezug" eine wichtige Rolle: Je groesser der Sozialbezug des Tagebuchs, desto geringer dessen Schutz. Je mehr der Tagebuchschreibende sich mit sich selber, mit seinen persoenlichen Gedanken und Gefu-ehlen beschaeftigt, desto eher sind seine Aufzeichnungen geschu-etzt. Werden vorwiegend Beobachtungen ueber Freunde und Bekannte notiert, ist es eine Ermessensfrage des Gerichtes, ob die Auf-zeichnungen benutzt werden duerfen oder nicht. Allerdings, stellt Dr. Laber dar, wird der Mensch keineswegs als Einsiedler verstan-den. Auch Aufzeichnungen ueber die Lebenspartner sind geschuetzt.
Diese Einschaetzung ist das Ergebnis einer langen Diskussion. Der Bundesgerichtshof entschied bereits 1964, dass Tagebuecher zur Intimsphaere eines Menschen gehoerten und deshalb nicht vor Ge-richt verwendet werden duerften. Dieses Urteil baute das Bundes-verfassungsgericht 1973 in seiner sogenannten "Sphaeren-" oder "Dreistufentheorie" aus: Nicht alles, was den Titel "Tagebuch" traegt, ist deshalb schon ein Geheimdokument. Ob private Texte geschuetzt sind oder nicht, haengt von deren Inhalt ab. Zum abso-lut geschuetzten "Kernbereich" gehoeren laut Bundesverfassungsge-richt Tagebuecher, in denen die "Auseinandersetzung des Betroffe-nen mit sich selbst" im Vordergrund steht. Nicht geschuetzt sind Aufzeichnungen, die rein aeusserliche Ablaeufe wiedergeben, wie zum Beispiel Terminkalender. Eine Frage des Ermessens sind Tage-buecher, in denen sowohl persoenliche als auch aeusserliche Bege-benheiten beschrieben werden. Hier muss abgewogen werden, ob die Privatsphaere des Einzelnen oder das Interesse des Staates an der Strafverfolgung wichtiger ist. Unter bestimmten Umstaenden - bei besonders schweren Delikten, bei Gefahr fuer Dritte oder wenn das Urteil nicht auf "harmloserem" Wege gefunden werden kann - darf das Tagebuch des Angeklagten in solchen Faellen verwendet wer-den.
Das wichtige an diesem Urteil ist die Feststellung, dass es ue-berhaupt einen Bereich gibt, der unter keinen Umstaenden beruehrt werden darf. Diese Auffassung wurde von anderen Gerichten immer wieder in Frage gestellt oder ignoriert. In seiner zweiten Tage-buch-Entscheidung musste der Bundesgerichtshof beurteilen, ob Ta-gebuchnotizen in einem Mordprozess verwendet werden durften. Die Staatsanwaltschaft warf in diesem Prozess dem Angeklagten vor, eine Frau erschlagen zu haben. Ein entscheidender Hinweis darauf waren seine privaten Aufzeichnungen, in denen er von seinen Schwierigkeiten mit Frauen und seinen aggressiven Stimmungen be-richtete. Es ging also um eine "Auseinandersetzung des Angeklag-ten mit sich selbst", die nach dem Urteil des Bundesverfassungs-gerichtes, so die Koelner Untersuchung, geschuetzt sein muesse. Dennoch, befand der Bundesgerichtshof, sei Mord eine so schwere Straftat, dass das Interesse des Einzelnen in diesem Falle zu-ruecktreten muesse. Das Bundesverfassungsgericht selbst erklaerte dieses Urteil 1989 fuer verfassungsgemaess.
Dr. Laber haelt diesen Spruch fuer "rechtlich bedenklich". Aus dem Grundgesetz gehe hervor, dass es einen prinzipiell geschuetz-ten Persoenlichkeitsbereich gibt, unter den auch intime Tage-buchaufzeichnungen gehoeren. Wenn sogar in diesem Bereich die Schwere der Straftat ein Argument ist, die Geheimhaltung aufzuhe-ben, dann hoert der geschuetzte Bereich praktisch auf, zu exi-stieren.
Mit dieser Feststellung verschiebt sich das Problem auf eine an-dere Ebene: Wo faengt der unantastbare Bereich an, und wo hoert er auf? Auch mit den Kriterien des "Sozialbezugs" und des "Geheimhaltungswillens" bleiben die UEbergaenge zwischen absolut, relativ und ueberhaupt nicht geschuetzten Tagebuechern fliessend. Die Entscheidung, ob ein Tagebuch verwendet werden darf, kann nicht von vornherein, sondern muss von Fall zu Fall entschieden werden. Das ist aber, so die Studie, kein Mangel der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung, sondern liegt in der Natur der Dinge: "Ein rechtlicher Begriff kann nicht klarer sein als die verschie-denen Lebenssachverhalte, die er regelt."
Damit ergibt sich ein weiteres Problem: Um zu entscheiden, ob ein Tagebuch geschuetzt ist, muss der ermittelnde Beamte oder der Un-tersuchungsrichter es erst lesen. Liest er es aber und stellt dann fest, dass es geschuetzt ist, hat er schon dessen Schutz verletzt. Da er dieses Tagebuch nicht verwenden darf, muss der Richter dessen Inhalt korrekterweise vergessen beziehungsweise verdraengen. Das sei eine "psychologische Monstroesitaet" und hiesse, "sich in die eigene Tasche zu luegen". Dr. Labers Loe-sungsvorschlag: Ein anderer als der ermittelnde Richter muss ent-scheiden, ob das Tagebuch verwendet werden darf oder nicht.
Fuer Rueckfragen steht Dr. Birgit Laber, Telefon: 0214 / 30 61 926, Fax: 0214 / 30 65 270 zur Verfuegung
Criteria of this press release:
Social studies
transregional, national
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German
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