Unterschiede in kommunikativen Mustern zwischen Ost und West
"Ost- und Westdeutschland sind durch eine gemeinsame Sprache getrennt (Christoph Hein). Wie ist diese weit verbreitete Ansicht sprachwissenschaftlich zu betrachten?
Dieser Frage geht das seit 1994 unter der Leitung von Prof. Dr. Gerd Antos laufende DFG-Projekt "Wissenstransfer und Wertewandel als Kommunikationsproblem" nach. Gegenstand der Untersuchung sind dabei 350 telefonische Beratungsgespraeche zu Themen wie Reiserecht, Versicherungen, Erb- und Rentenrecht, Schadens-regulierung, Berufsberatung, Existenzgruendung und Baufinanzie- rung. Das mit diesen Themen verbundene alltagsweltlich wichtige Fachwissen ist fuer viele Buerger der neuen Laender aber entweder partiell unbekannt, neu oder noch nicht Teil ihrer alltaeglichen Praxis. Daraus ergibt sich nun die Fragestellung des Projektes: Wie wird der Transfer von diesem Wissen sprachlich bearbeitet und wie manifestieren sich in Interaktionen die mit der Veraende-rung von Wissen verbundenen Werte (Veraenderung von Wissens-rahmen, -praeferenzen und -hierarchien). Der Vergleich dieses Wissenstransfers zwischen "Ost-Experten" und "Ost-Laien" einer-seits und "West-Experten" und "Ost-Laien" andererseits laesst dabei Rueckschluesse auf Unterschiede im Kommunikationsverhalten zwischen Ost und West zu, denn hier werden naemlich Kommunikationsprobleme (im Kontext mit Wissensdefiziten, mit der Einordnung und Bewertung neuen Wissens oder aufgrund unbekannter oder unklarer Sachverhalte/ Bezeichnungen) von den Beteiligten selbst sowohl direkt als auch indirekt (z.B. durch Problemati-sierung von Wissensdefiziten und -voraussetzungen sowie bei der Klaerung von Missverstaendnissen etc.) zum Gegenstand der Beratung gemacht.
Einige vorlaeufige Ergebnisse: West-oestliche Unterschiede im Kommunikationsverhalten beruhen auf unterschiedlichen Mustern der Diskursorganisation. West-Experten praeferieren dabei eher eine algorithmusaehnliche Beratungsstrategie der Problemexplika-tion und Problemloesung. Sie bevorzugen ein Vorgehen, das einer-seits die Ost-Anrufer mit ihren Problemen ausfuehrlich zu Wort kommen laesst, andererseits aber bei der Problemloesung nicht hin-reichend auf Erwartungen und Verarbeitungspraeferenzen der Adres-saten eingeht. Stattdessen nutzen sie diese Gespraechsphase, um sich als kompetente Experten in Szene zu setzen. Typisch: Monologischer Vortragsstil, viel Grundsaetzliches, zuviel Infor-mation auf einmal. Ost-Experten hingegen halten die Problem-explikation recht kurz, versuchen die Probleme schnell zu eti-kettieren und bevorzugen ein "schnelles Antwortgeben". Dabei werden Informationen nicht nur vermittelt, sondern auch bewertet und fuer den Adressaten mit als verbindlich unterstellten Hand-lungsanweisungen verknuepft. Bisweilen beraten sie auch dort, wo dies mitunter gar nicht verlangt wird. Ihr Expertentum insze-niert sich haeufig durch den Nachweis von einfuehlendem Verstaend-nis (Empathie). Charakteristisch fuer den oestlichen Beratungsstil sind ferner Folgen von "Nachtragsberatungen": Dabei werden Kern- oder Folgeprobleme in Abhaengigkeit vom erreichten Gespraechs-klimas "vorsichtig vortastend" nach und nach angesprochen (teil-weise mit Stilwechsel ins Private).
Die Folgen: 1. Westdeutsche Experten praesentieren zwar neben Informationen auch optimale Handlungsmoeglichkeiten, helfen den Anrufern aber selten, sich in den neuen Informationen und Handlungsalternativen zurechtzufinden. Anders als Ost-Experten weigern sie sich, in Beratungen Informationen zu bewerten und damit ein Gefuehl der Sicherheit und Solidaritaet zu vermitteln.
2. Allgemein gilt: Die Bedeutung von kommunikativen Mustern fuer den Ablauf, das Klima und den "Erfolg" einer Kommunikation ist weithin unbekannt. Entsprechend schwer faellt es Handelnden, ihr eigenes kommunikatives Handeln wahrzunehmen und zu steuern. D.h.: Kommunikative Muster (sowie -konkurrenzen und -konflikte) entziehen sich weitgehend der Eigenwahrnehmung. Daher wird "die Schuld" bei Musterkonkurrenzen und -konflikten entweder anderen sprachlich-kommunikativen Aspekten zugeschrieben (z.B. Dialekt, Sonderwortschatz) oder in "Charakterfehlern", im Geschlecht, in ethnischen Eigenschaften etc. gesucht.
3. Welche (vor allem langfristigen) Konsequenzen die Durchsetzung kommunikativer Muster auf Einstellung und Verhalten der "Dominierten" hat, laesst sich im Hinblick auf das vorliegende Material nicht sagen. Die Folgen des Erlebens wechselseitiger "Fremdheit" sollten aber nicht unterschaetzt werden.
Ansprechpartner: Thomas Schubert, Martin-Luther-Universitaet Halle-Wittenberg, Institut fuer Germanistik Tel.: (0345) 55 236 03 oder 55 236 01 Fax: (0345) 55 27 107 e-mail: schubert@germanistik.uni-halle.de
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