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07/08/2002 08:18

Afrobrasilianische Literatur: zwischen politischem Engagement und poetischer Innovation

Ilka Seer Stabsstelle Kommunikation und Marketing
Freie Universität Berlin

    Eine Arbeit über die Literatur schwarzer Autorinnen und Autoren aus Brasilien? Ein Exotenthema mit politisch korrektem Hintergrund - so mag manch einer vielleicht denken, ist die brasilianische Literatur jenseits von Paulo Coelho und Jorge Amado hierzulande doch wenig bekannt und afrobrasilianische Kultur höchstens in Form von Afro-Samba und Karneval ein Begriff. Tatsächlich gehört die Untersuchung der 'literatura negra', der "schwarzen" Literatur, über die Patricia Weis-Bomfim promoviert hat, zu den an Bedeutung gewinnenden Bereich der so genannten "Minderheitenliteratur". So befasst sich die Arbeit mit künstlerischen Manifestationen, die weitgehend außerhalb des etablierten Literaturbetriebs entstehen, und mit Produzenten einer gesellschaftlichen Gruppe, die größtenteils in einer sozial benachteiligten Situation leben.

    Die Bezeichnung "Minderheitenliteratur" sagt weder etwas über den ästhetischen Wert noch über die quantitative Bedeutung dieser Gruppe aus. In Brasilien ist diese "Minderheitenliteratur" die Literatur einer Mehrheit, denn der Anteil der Afrobrasilianer macht etwa die Hälfte der Bevölkerung Brasiliens aus, das damit nach Nigeria das Land mit dem größten schwarzen Bevölkerungsanteil der Erde ist.

    Die Diskriminierung der Nachfahren ehemaliger Sklaven reicht bis in die Gegenwart, ebenso wie die Marginalisierung ihrer Kultur, die entweder abgelehnt oder als Folklore kommerzialisiert wird. Afrobrasilianische Literatur ist insofern "Minderheitenliteratur", als sie bestehende Machtverhältnisse in Frage stellt, Inhalte und Formen verwendet, die dem Kanon zuwiderlaufen, und deshalb kaum Eingang in Verlage und Literaturkritik findet. Die Anerkennung künstlerischer Produktionen hängt daher, laut der brasilianischen Literaturwissenschaftlerin Zilá Bernd, nicht von deren ästhetischem Wert ab, sondern vielmehr von der Fähigkeit einer Gesellschaft, sich in einem bestimmten historischen Moment mit der eigenen Realität auseinander zu setzen. Erst in den vergangenen Jahren erreichte die afrobrasilianische Literatur allmählich ein größeres Publikum. Nun liegt die erste Monographie in deutscher Sprache unter dem Titel "Afrobrasilianische Literatur - Geschichte, Konzepte, Autoren" vor.

    Die Arbeit setzt sich in drei einführenden Kapiteln mit der Geschichte, Sozial- und Literaturgeschichte Brasiliens auseinander und offenbart dabei den oft verschwiegenen Beitrag der Afrobrasilianer und die teilweise bis heute wirksamen Mechanismen rassistischer Ideologien. Rassismus und Diskriminierung in Vergangenheit und Gegenwart sind auch die bestimmenden Themen in den Lyrik- und Prosatexten der fünf zeitgenössischen afrobrasilianischen Autorinnen und Autoren, die die Literaturwissenschaftlerin im Anschluss untersucht.

    Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass es sich bei 'literatura negra' um Literatur handelt, die von schwarzen Autorinnen und Autoren geschrieben wurde und die trotz der großen Vielfalt eine Reihe von Gemeinsamkeiten aufweist. Die Vertreter der 'literatura negra' wollen den Rassismus und die gesellschaftliche Benachteiligung der schwarzen Brasilianer anprangern und fordern die Anerkennung des afrobrasilianischen Beitrags zur Konstituierung Brasiliens. In der 'literatura negra' ergreifen die Schwarzen selbst das Wort und geben damit ihrer Auffassung von der brasilianischen Geschichte Ausdruck. Dabei beschränkt sich die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft keineswegs auf die Anklage, sondern versucht, alternative Wege aufzuzeigen und die afrobrasilianische Kultur aufzuwerten, ohne aber den Text als bloßes Vehikel politischer Intentionen zu verstehen. Darüber hinaus bemüht sie sich auch um eine kreative Neugestaltung der Sprache und ist immer eine Auseinandersetzung mit der eigenen individuellen Identität und der Suche nach der Positionierung der Schwarzen als gesellschaftliche Gruppe.

    Damit schafft die afrobrasilianische Literatur eine Grundlage für die Diskussion über die Bedeutung ethnischer Identitäten im nationalen Diskurs, über Ausgrenzung und Integration, also für Themen, die auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Um einen Vergleich mit der Geschichte der Afro-Deutschen und dem Rassismus hierzulande bemüht sich Patricia Weis-Bomfim auch in der Lehrveranstaltung "Afrobrasilianische Literatur", die sie im laufenden Sommersemester am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin erteilt. Es ist übrigens die erste, die zu diesem Thema an einer europäischen Universität angeboten wurde, und das - noch ein Novum - an einem Institut, das über den einzigen deutschen Lehrstuhl für Brasilianistik verfügt. Die Dissertation, die mit einem Promotionsstipendium der Nachwuchsförderung der Freien Universität Berlin gefördert wurde, ist auch Lesern zugänglich, die des brasilianischen Portugiesisch nicht mächtig sind, da alle Primärtexte im portugiesischen Original mit deutscher Übersetzung, meist von der Autorin selbst verfasst, abgedruckt sind.

    Literatur:
    Patricia Weis-Bomfim, "Afrobrasilianische Literatur - Geschichte, Konzepte, Autoren", Mettingen: Brasilienkunde-Verlag 2002. 198 Seiten, ISBN: 3-88559-078-6, Preis: 14,50 Euro

    Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
    Dr. Patricia Weis-Bomfim, Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, Rüdesheimer Str. 54-56, 14197 Berlin, Tel.: 030 / 838-53072, E-Mail: Parana.Bomfim@t-online.de


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    Criteria of this press release:
    Language / literature, Social studies
    transregional, national
    Research projects, Research results
    German


     

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